DRACHEN
Die
erste Begegnung von Holger Kuhn Das Paar spazierte Hand in Hand durch die strahlende Oktobersonne. Es war in den letzten Tagen empfindlich kühl geworden. Die Sonne spendete nur noch wenig ihrer ursprünglichen Wärme. Die Bäume des Waldes wechselten langsam ihre Farben, unter den Füßen raschelte das welke Laub. Die beiden gelangten auf eine Lichtung, in deren Sonne eine kleine Holzbank zum verweilen einlud. Sie saßen eine ganze Zeit lang nah beieinander und unterhielten sich angeregt oder genossen schweigend die Zweisamkeit. Unverhofft brachte ein markerschütternder, röhrender Schrei über ihren Häuptern alle anderen Geräusche des Waldes zum verstummen. Erschrocken hoben beide die Köpfe und sahen nach oben. „Was war das?“. Ein riesiger Schatten glitt knapp über dem Blätterdach hinweg, drehte eine Schleife und landete geschmeidig mitten auf der Lichtung. Dort saß, . . . nun . . . – ein Drache! Der Drache faltete sorgfältig seine mächtigen
Schwingen zusammen, dann kam er gemächlichen Schrittes auf die verblüfften
jungen Leute zu. Seine Schuppen glänzten in der herbstlichen Sonne in
allen nur erdenklichen Grünschattierungen. In der Bauchgegend
herrschten ockerfarbene Nuancen vor, während der restliche Körper von
kräftigen, dunklen Grüntönen dominiert wurde. Die Bauchschuppen waren
im Laufe der Evolution ledriger Haut gewichen. Der lange Schwanz endete
in einer pikförmigen Verdickung und bewegte sich unermüdlich über den
Waldboden. Nach wie vor saßen die beiden Liebenden wie
angewurzelt auf der kleinen Bank. Unfähig angesichts dieses imposanten
Schauspiels auch nur den kleinen Finger zu rühren. Das Wesen hielt etwa
fünf Meter vor der Bank inne, setzte sich auf die Hinterbeine und
beugte sein Haupt den Sitzenden ein wenig entgegen. Die durchdringenden
Augen musterten eindringlich den jungen Mann, bevor seine Begleiterin
ebenfalls eindringlich von oben bis unten begutachtet wurde. „Ihr seid die ersten Menschen die seit
Jahrtausenden wieder meinesgleichen zu Gesicht bekommen. Darf ich mich
vorstellen? Mein Name ist Menion. Ich bin der Erste meiner Gattung, der
sich aus seinem Hort in die Lüfte erhob, um den Menschen zu zeigen, das
sie nicht mehr allein sind. Diese Gegend hier war und ist meine Heimat. Die
letzten zehntausend Jahre verschlief ich in meiner Behausung tief unter
diesem Wald.“ Das Geschöpf beschrieb mit einer Klaue eine umfassende
Geste. „Noch viele andere meiner Artgenossen warten darauf, das die
Zeit für sie kommt, sich ebenfalls aus ihren Verstecken hervor zu
wagen. Wir sind Relikte aus längst vergangenen Tagen, die aus der
Erinnerung der Menschen verschwanden. Wir Drachen lebten nur noch in den
alten Sagen und Legenden fort, aber niemand glaubte mehr an unsere wahre
Existenz. Aber nun ist die Zeit reif, uns den Leuten wieder ins Gedächtnis
zu rufen. Ihr habt genug Schaden auf diesem Planeten angerichtet. Wir können
nicht weiter tatenlos zusehen und euren Frevel an der Natur dulden. Der
Homo sapiens wird lernen müssen mit uns zusammen zu leben. Einige von
euch werden lernen müssen uns zu dienen, wie dies schon vor
Jahrtausenden geschah, bevor die Magie unterging und mit ihr der Glaube
an uns Drachen. Mit einem kleinen Unterschied; ihr habt eure Magie
verloren, wir sind mächtiger denn je!“ Abrupt drehte sich das Reptil um, entfaltete seine
Schwingen und erhob sich kraftvoll in die Lüfte. Momente später war es
den fragenden Blicken der beiden Menschen entschwunden. Copyright
© Oktober 1999 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach |