DRACHEN

 

Felix Karsülke

 

von

 

Holger Kuhn

 

 

Geschickt landete Urphar auf einer freien Stelle zwischen den Automobilen. Gemächlich schaute er sich um, bevor er auf den Eingang des Friedhofes zusteuerte. Die Menschen die ihm begegneten schlugen hastig Kreuzzeichen, um sich dann schnellstmöglich in Sicherheit zu bringen. In der Hoffnung in einem Gebäude vor dem Untier geschützt zu sein, packte ein älterer Herr seine Begleiterin und zerrte sie mit sich in die Herrentoilette.

Jemand der gerade auf dem Parkplatz angekommen und im Aussteigen begriffen war, ließ sich zurück in das Fahrzeug fallen. Die Person würgte mehrere Male den Motor ab, bevor sie panikartig davonraste und dabei eine Spur Gummi zurückließ.

Zur gleichen Zeit rannte eine junge Mutter mit ihrem Kinderwagen zu ihrem geparkten Kombi. Sie riß ihren mucksmäuschenstillen Nachwuchs unter den Decken hervor und stieg mit ihm in die relative Sicherheit des Fahrzeuges. Als ihr aufging wie wenig Schutz das Auto doch bot, schnallte sie sich samt Kind fest und suchte unvermittelt und unter Mißachtung aller Verkehrsregeln das Weite. An den Kinderwagen verschwendete sie keinen Gedanken.

Der Drache nahm nur beiläufig von den Geschehnissen um sich herum Notiz und betrat unbeirrt das Friedhofsgelände.

 

Auf dem Gräberfeld stieg er achtsam über die verschiedenen Ruhestätten hinweg und begutachtete jedes einzelne davon. Urphar fiel die Vielfältigkeit der Gedenkstätten auf. Zum einen die schlichten Gräber mit wenig oder gar keinem schmückenden Zierrat. Und direkt daneben ein monumentales Werk von einem Künstler aus Marmor und anderen edlen Materialien geschlagen. So begraben die Menschen also ihre Toten. Ob sie ihrer auch proportional zur Größe und der Kosten des Grabes gedenken? Oder ist das wieder nur so ein Statussymbol!? Was die Verstorbenen davon wohl halten? dachte Urphar bei sich. Mancher Tote liegt komfortabler als viele Schlafende. Ein schöner Ort, nicht nur für die Lebenden. Besinnlich und ruhig.    

Der Drache tastete sich weiter seinen Weg über den Totenacker hinweg. In der Sorge ja nichts zu beschädigen, wand er sich zwischen mehreren Bäumen hindurch. Dahinter saß eine alte Dame auf einer Bank, deren Gesicht eine wachsbleiche Farbe angenommen hatte. Ihre Augen waren geschlossen, als schliefe sie. Nicht nur auf mich scheint dieser Flecken eine erholende und beruhigende Wirkung auszuüben.

Urphar lief an der Frau vorüber zu dem kleinen vorbeiplätschernden Bach. Dort setzte er sich nieder und soff von der leicht getrübten Brühe. Nach dem ersten Schluck zog der Drache verleidet die Nüstern kraus und grollte vor Ekel. Das Wasser schmeckte furchtbar. Angewidert erhob er sich und trabte zu einer Wiese, die noch nicht von Grabstätten übersät war. Dort ließ er sich nieder und döste, den Kopf im Gras, eine Weile vor sich hin.

 

*

 

Wie so oft stand Felix Karsülke auch heute wieder am weit geöffneten Fenster und sog die verlockend duftende Frühlingsluft in seine Lungen. Er lauschte dem Wind und den Vögeln, die aus ihrem Winterquartier im Süden zurückgekehrt waren. Ein Spaziergänger ging langsam am Haus vorbei. Das Tappen von Pfoten auf dem unbefestigten Weg begleitete ihn. Auf der nahegelegenen Umgehungsstraße glitt ein Motorradfahrer gleichmäßig über den Asphalt. Das basslastige Bollern seines Boliden verklang allmählich in der Ferne.

Der junge Mann beneidete den Biker. Gerne würde er selbst ein Zweirad fahren. Doch daran war, seit dem Unfall den er als kleiner Junge erlitten hatte, nicht mehr zu denken. Seitdem stand er fast jeden Tag hier am Fenster und lauschte der Welt.

Aufheulende Motoren und quietschende Reifen lenkten seine Aufmerksamkeit auf den nahen Friedhof. Die Geräusche verklangen und Felix lauschte noch einige Minuten angestrengt, aber nichts ungewöhnliches war mehr zu hören.

Zwischenzeitlich hatte in der Küche der Wasserkessel gepfiffen, den der Blinde für zwei Tassen Kaffee aufgesetzt hatte. Felix nahm den Kessel von der Herdplatte und goß das heiße Nass in die vorbereitete Tasse. Aus dem Kühlschrank angelte er sich einen Krapfen, den er in den gezuckerten Milchkaffee tunkte und genüßlich verspeiste.

Nach der kleinen Mahlzeit griff Felix seinen Walkman und legte die Kassette mit den neuesten Nachrichten ein. Der Stimme lauschend, schlenderte er zurück ans Fenster.

Der Sprecher informierte ihn über das aktuelle Weltgeschehen, bis Felix die Erschütterungen spürte. Erst waren sie nur sanft und kaum wahrzunehmen, doch schnell wurden sie heftiger. Zuerst dachte der Blinde an ein Erdbeben, aber diesen Gedanken verwarf er schnell wieder. Die Vibrationen waren viel zu gleichmaßig und beinhalteten einen gewissen Rhythmus. Dieser Rhythmus erinnerte ihn an den langsamen, ja gemächlichen Gang eines schweren Vierbeiners.

Felix nahm den Hörer vom Kopf und lauschte.

Nach einigen weiteren Sekunden drangen die Schritte nicht mehr nur bis in seinen Magen, sondern auch an seine Ohren. Etwas Großes, etwas unglaublich Großes näherte sich.

Fremde Worte schlichen sich in sein Gehirn. Es waren freundliche Worte von denen keine Bedrohung aus ging, deren unbekannte Herkunft ihn aber dennoch zu tiefst irritierten.

Nanu, ein Mensch der nicht vor mir flieht? Hast du denn gar keine Angst?

<Nein. Sollte ich denn Angst haben?> antwortete Felix.

Nein. Wenn es nach mir ginge, nicht.

<Wenn es nach dir ginge? Was willst du damit sagen?> Die Schritte verstummten und Felix spürte die Anwesenheit eines riesigen Lebewesens keine zehn Meter entfernt.

Es liegt nicht in meiner Macht, den Menschen die Angst vor mir und meinen Artgenossen zu nehmen. Das erklärt aber nicht, „warum“ du keine Angst hast?

<Du und deine Artgenossen?> Langsam wurde Felix doch ein wenig mulmig zumute. <Wenn es dich beruhigt, langsam bekomme ich ein ungutes Gefühl.>

Man nennt mich Urphar, den Hüter. Ich bin ein Angehöriger der Spezies „Drache“.

<Urphar, der Hüter?> Der junge Mann war verblüfft, doch dann strich sich nachdenklich über das Kinn. <Ich habe deinen Namen schon einmal gehört.>

Du kennst meinen Namen? Jetzt war es an dem Drachen erstaunt zu sein. Er setzte sich auf die Hinterbeine und musterte seinen Gesprächspartner. Wo hast du ihn aufgeschnappt? 

<In einem Roman, genauer in einem Fantasy-Roman. Darin wurdest du als der Hüter des Tores zur Elfenwelt beschrieben.>

Ihr Menschen wisst mehr über uns Drachen, als wir glauben. Mir scheint ihr pflegt ein reges Interesse an uns.

<Warum kann ich deine Worte nicht „hören“?>

Weil ich mich auf telepathischem Wege mit dir unterhalte. Ist das „Hören“ für dich so wichtig?

<Nun ja. Ich bin blind, mußt du wissen.>

Urphar war überrascht, ließ es sich aber nicht anmerken. Blind? Du siehst mir so selbstverständlich in die Augen, als könntest du mich sehen. Der Drache legte sich nieder und entspannte sich. Seine Sicht wechselte in die astrale Welt, wo dessen Sinne sein Gegenüber askennten[1].

<Was meine Augen nicht mehr leisten, versuchen mein Gehör und die anderen Sinne wett zu machen. Normalerweise richte ich mich nach dem Klang und der Richtung einer Stimme. In deinem Fall dauerte es einen Moment, bis ich auf den Gedanken kam, mich nach deinen Schritten zu richten.>

 

In der Astralen Wahrnehmung betrachtete Urphar sein Gegenüber. Der vor Lebenskraft und Gesundheit glühende Astralleib des Blinden offenbarte ihm ebenfalls die Emotionen des anderen. Der Drache las darin, wie in einem Buch. Felix hielt eine freudige Unsicherheit gefangen, in der eine unterschwellige Furcht mitschwang.

Die Anomalie der Blindheit fiel in der Aura nicht weiter auf. Urphar musste sie erst eingehender untersuchen, bevor er die beiden winzigen, dunklen Flecken entdeckte. Der Drache schloß daraus, das die Augäpfel und das Sehvermögen nicht völlig tot, sondern nur gestört waren. Und jede Störung ließ sich beheben.

 

Mehrere Minuten bekam Felix keine Antwort. Er lauschte konzentriert auf Geräusche die darauf schließen ließen, das der Drache noch anwesend war. Er glaubte regelmäßigen Atem zu hören, doch er war sich nicht sicher. Es ging im Motorenlärm eines Flugzeuges unter und war, nachdem der Lärm verklungen war, nicht mehr aus zu machen.

Felix seufzte und fragte noch einmal aufs gerate Wohl ins Grün vor seinem Fenster hinaus: <Bist du noch da Urphar?>

Der junge Mann nahm seine Kaffeetasse vom Fensterbrett und wollte sich gerade wieder in die Wohnung zurückziehen, da bekam er zu seiner Überraschung doch noch eine Antwort.

Ich bin noch hier, junger Freund. Ich habe mir nur deine Aura angesehen. Laß uns ein wenig spazieren gehen.  

 

*

 

Deine Aura ist sehr interessant. Nachdem sie bereits einige Minuten gegangen waren, nahm der Drache den Faden wieder auf. Sie strotzt vor Kraft und Lebensmut.  

Darauf wußte Felix nichts zu antworten und er wartete darauf, daß der Lindwurm weitersprach.

Du warst nicht immer blind, Felix Karsülke. Und du wünschst dir nichts sehnlicher als wieder sehen zu können. Obwohl du dich in dein Schicksal ergeben hast und nicht zu hoffen wagst, daß es sich eines Tages ändern könnte. Vielleicht kann ich dir helfen...

Felix blieb stehen. <Bitte Urphar, spiel nicht mit meinen Hoffnungen und Gefühlen.>

Das Tier spürte Felix Furcht davor, enttäuscht zu werden. Drachen spielen niemals mit Hoffnungen und Gefühlen. Aber Drachen tun auch niemals etwas umsonst.

<Natürlich! Das dachte ich mir. Die Sache hat einen Haken. Welchen, Urphar? Erklär mir den Haken.> forderte der Blinde.

Deine Seele! Ich fordere deine Seele. Sobald du stirbst, bin ich bei dir und sauge deine Essenz, deinen Geist in mich auf. 

<Wofür brauchst du meinen Geist. Du bist doch nicht der Satan, oder?> Überrascht hielt Felix inmitten der üppig bewachsenen Wiese inne. Den Blindenstock stellte er auf dem Boden ab und stützte sich darauf.

Ich bin ein Hüter, schon seit Jahrtausenden. Und ich werde ein Hüter sein, solange die Aufgabe nicht vollbracht ist. Vorher gibt es für mich keine Hoffnung auf Erlösung. Deine Seele verlängert mein Leben um einige Jahrzehnte.

Bist du bereit diesen Preis zu zahlen? 

<Was passiert mit meiner Seele? Lebe ich in dir weiter?>

Deine Seele stärkt meine Essenz und verlängert mein Leben. Tief in meinem Gehirn lebst du in einer kleinen Nische weiter. Hin und wieder werde ich dich dort besuchen kommen.

Laß uns nun einen ruhigen Ort aufsuchen.

<Gut.> Felix mißlang es, den Kloß in seinem Hals hinunter zu schlucken.

 

*

 

Der Wille Urphars tauchte wie ein Fetzen Dunkelheit in den Mikrokosmos des knapp zwei Millimeter durchmessenden Sehnerves ein. Tiefer und tiefer drang er skalpellweich in die Regionen der Nervenfaserbündel und endlich in die Nervenfasern selbst vor.

Photonengeschwind suchte er Kraft seiner Gedanken in den etwa 19,89x109 Fasern die Stellen an denen Felix Sehnerven unterbrochen waren. Diese galt es nun wieder zusammenzuflicken. Der messerscharfe Wille des Drachen tastete sich seinen Weg durch die mikroskopisch feinen Nervenzellen. Dabei machte er auch vor deren elektrischen Impulsen nicht halt, an die er sich anheftete, um mit ihnen durch die Zellen zu reisen.

Endlich entdeckte das Gespinst seines Willens eine Unterbrechung und wechselte in die betroffene Nervenbahn. Dort setzte sein Geist sich an der Innenwand der Faser fest und zog sie einen winzigen Bruchteil eines Millimeters in die Länge. Die Faser näherte sich ihrem abgetrennten Pendant an und der Drache schweißte Macht seines Willens die beiden Enden wieder zusammen.

Auf die gleiche Weise verfuhr er mit allen anderen auffindbaren Unterbrechungen der Sehnerven beider Augen, die er ihren Längen anpasste und endlich wieder miteinander verband.

Dann zog er sich aus dem Kopf des schreienden jungen Mannes zurück.

 

*

 

Felix krümmte sich vor Schmerz. Seine Handflächen presste er auf die Augen, als könne er dadurch seine Qual ein wenig erträglicher gestalten. Zusätzlich zog Felix die Knie bis an die Brust. In dieser Stellung verharrte er mehrere Minuten, in denen sich Urphar neben ihn ins Gras bettete und über seinen Zögling wachte.

Allmählich verebbten die Schmerzen in Felix Kopf. Benommen nahm er die Hände von den Augen und blinzelte in das Blau des Himmels. Verwirrt schloss er kurz die Augen und schüttelte den Kopf, als wolle er einen Alptraum abschütteln, der ihm vorgaukelte wieder sehen zu können. Doch die visuellen Eindrücke blieben.

Abrupt setzte Felix sich auf und betrachtete erstaunt einen Grashalm, der neben ihm hin und her wogte. Dann richtete er seinen Blick in die Ferne, wo er die Wolkenkratzer der nahen Stadt eingehend musterte. Er war überwältigt davon, wieder sehen zu können.

Felix fuhr sich mit der Hand durch das Haar und sagte: <Es ist schön wieder sehen zu können.> Dabei umspielte ein versonnenes Lächeln seine Mundwinkel. <Vielen Dank Ur-phar.>

Der Drache hob den Kopf und nickte. <Es freut mich dich glücklich zu sehen, junger Freund.>

Das Lächeln verschwand aus Felix Zügen. Er ließ noch einmal das Gespräch mit dem Drachen vor seinem inneren Auge Revue passieren. Ohne Urphar anzublicken fragte er: <Habe ich dir wirklich meine Seele verkauft?>

<Ja, das hast du.> Urphar setzte sich auf und überblickte die Wiese.

Felix schwieg und dachte noch einen Moment nach. <Urphar? Du erwähntest vorhin eine Aufgabe. Welche Aufgabe ist das?>

Davon erzähle ich dir ein anderes Mal. Ich muss nun gehen. Urphar spreizte die Schwingen und erhob sich in die Lüfte. Er ließ einen glücklichen, aber verwirrten Felix zurück, der dem kleiner werdenden Tier hinterblickte.

 

  

(Dicke eines Sehnerves = ca. 1,5 bis 3 mm

Enthält 400.000 bis 500.000 Nervenbündel mit je 40.000 bis 50.000 Nervenfasern)

 

 

 

Copyright © Januar 2003 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach



[1] askennen = ansehen oder lesen der Aura