DRACHEN Hochzeit von Holger
Kuhn „Sieh mal Papi, wie toll die Vögel dort oben fliegen.“ rief der kleine Junge und hielt sich an der untersten Strebe der Reling fest. Sein Vater kam zu ihm und schaute in die Richtung in die sein Sohn wies. Etwas störte den Mann am Flugbild der vielen Tiere. Was genau es war, vermochte er nicht zu sagen. Ein anderer Passagier des Kreuzfahrtschiffes hatte
sich ein Fernglas um den Hals gehängt und starrte schon seit mehreren
Minuten gebannt auf des Spektakel am Himmel. Als der ältere Herr
langsam das Glas sinken ließ, zierte sein Gesicht eine unnatürliche Blässe.
Die Knöchel seiner Finger traten weiß und spitz unter der Haut hervor,
so verkrampft hielt er sich an dem Feldstecher fest. „Unmöglich. Das
ist unmöglich!“ stammelte er vor sich hin. * Arreste schraubte sich anmutig in das strahlende
Blau des wolkenlosen Himmels. Der Atlantik, mehrere hundert Meter unter
ihr, reflektierte das gleißende Licht der Mittagssonne. Hier und da
brachen die Fluten es in seine Spektralfarben. Das Weibchen vollführte waghalsige Flugmanöver,
die jeden Kunstflieger vor Neid hätten erblassen lassen. Mit dem
kleinen Unterschied, daß davon der Fortbestand ihrer Gattung abhing.
Sie ging in einen Sturzflug über, in den sie einige Pirouetten
einbaute, die mehreren ihrer Verfolger schwer zu schaffen machten. Das
kaum bewegte Wasser kam immer rascher auf das Tier zu, und nur ein
einziger Artgenosse konnte an ihre Geschwindigkeit heranreichen. Längst
füllte der Ozean ihr gesamtes Gesichtsfeld aus. Sekundenbruchteile
bevor der mächtige Körper in das Wasser eintauchte, entfalteten sich
die Schwingen und Arreste raste über die Weiten des Atlantiks dahin.
Direkt auf den Luxusliner zu, der in verlangsamter Fahrt die kleinen
Wellen durchpflügte. Tausend Augenpaare verfolgten ihre und die
Flugbahnen der anderen Tiere. Arreste ließ sich keinen Augenblick lang
von den staunenden Zuschauern stören. Das Weibchen umkreiste einige
Male das Schiff und zog dabei einen Schweif Männchen hinter sich her.
Er, der schnellste und behendeste, würde ihr Gemahl werden. Mit ihm würde
sie sich zuerst paaren, er allein das gemeinsame Ei versorgen und das
Junge großziehen. Und er würde der Vater des einzigen weiblichen
Nachkommen dieses Frühlings sein. Aus den Eiern der anderen
paarungswilligen Angehörigen des starken Geschlechts würden
ausnahmslos Söhne schlüpfen. Steil zog Arreste ihren Flug hinein in das Azur
des Firmaments. Urphar, der wendigste und agilste von allen, würde am
Scheitelpunkt ihres Steigens unter ihren Bauch schlüpfen und sich mit
ihr vereinen. Sie würde ihre Schwingen um den Gemahl breiten und sie würden
sich gegenseitig mit Flügeln und Schwänzen umschlingen, wie die Äste
der Würgefeige den Stamm ihrer Wirtspflanze. Gemeinsam würden sie, dem
Höhepunkt entgegen, gen Ozean stürzen. Arreste brüllte freudig ihre Erregung in die
Welt. * „Sie mal Mami, ganz viele Drachen.“ Der kleine
Junge lief zu seiner, in den Armen des Vaters liegenden, Mutter. Ungläubig
stammelte der Mann mit dem Fernglas nun schon seit einigen Minuten
unverständliche Worte vor sich hin. Hinter ihm versorgten Gäste seine
und andere in Ohnmacht gefallene Passagiere, während das Schiff wieder
volle Fahrt aufnahm. Copyright
© Dezember 1999 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach |