DRACHEN Menschlicher
Zeitvertreib von Holger
Kuhn Der weibliche Drache zieht am nächtlichen Himmel
einige Kreise um das grelle Licht das ihn angelockt hat. Die Menschen
unter ihm wuseln wie aufgeschreckte Ameisen umher. Autos hupen im
aufkommenden Verkehrschaos. Der Strom der stecknadelkopfgroßen Menschen
unter ihr nimmt einfach kein Ende. Inmitten des Flusses bemerkt Amoné
immer wieder grüne Tupfer, die anscheinend versuchen eine Art Ordnung
in dem Wahnsinn aufrecht zu erhalten. Inmitten der Lichtflut liegt ein
Feld auf dem das Tier bequem hätte landen können. Darauf sind nur
vereinzelt umher wieselnde Punkte auszumachen. Seltsame weiße Linien
zieren das Grün. An den jeweils gegenüber liegenden Ecken stehen hohe
Masten, die das Licht tragen. Warum
drängeln sich so viele Menschen auf so engem Raum? Macht es vielleicht
Spaß? Oder passiert da noch etwas? Des Drachen Neugier ist entfacht und er entschließt
sich kurzerhand es heraus zu finden. Das Weibchen landet einige hundert
Meter abseits im dunklen Wald und nimmt menschliche Gestalt an. * „Ihre Eintrittskarte bitte!“ nimmt der Ordner
am Eingang des Bieberer Berges die junge Frau in Empfang. „Meine Eintrittskarte? Ich habe keine
Eintrittskarte. Braucht man denn so was?“ Amoné ist ziemlich baff, daß
die Menschen für solch ein Gedränge auch noch Geld bezahlen. „Ja. Ohne Karte kann ich sie hier nicht rein
lassen. Tut mit leid.“ Der Mann am Eingang wirkt schon ein wenig
gereizt. Er hat keine Lust sich auf eine lange Diskussion ein zu lassen.
Diese Masche kennt er schon zu genüge. Es läuft doch immer auf das
selbe hinaus. Elende Schnorrer! Die Frau wendet sich gerade zum gehen, als der
junge Mann hinter ihr endlich seine Chance erkennt. Er fischt eine überzählige
Karte aus einer der Taschen und reicht sie dem Kerl am Eingang.
„Moment. Hier ist die Karte der Dame.“ „Warum haben sie denn nicht gleich gesagt das
sie zusammen gehören?“ * „Vielen Dank.“ Amoné ist hoch erfreut und überrascht
auf ein Exemplar der Spezies ‚netter Mensch‘ zu treffen. „Brauchen
sie die Karte denn nicht mehr?“ „Nein. Der ursprüngliche Besitzer hat mich im
Regen stehen lassen.“ Zielstrebig führt der Mensch sie zu ihren
Sitzplätzen. „Aber es regnet doch gar nicht?“ Fragend
schaut das Mädchen dem Burschen in die Augen. „Das ist nur so eine Redewendung. Sie hat mich
versetzt.“ Ein wenig traurig ist der Mann schon, daß seine Freundin
nicht erschienen ist. Aber dies geschah in letzter Zeit immer häufiger
und dieses mal hatte er sogar damit gerechnet. Sie
hat sich in der letzten Zeit sehr verändert. Wahrscheinlich hätte sie
wieder nur gemault und alles und jeden, insbesondere mich, madig
gemacht. Jetzt hat er doch noch ein bildhübsches Mädchen bei sich,
mit der er ein wenig Small-Talk üben kann. „Ach so! Ich bin Amoné von Amiens.“ stellt
sich die Frau vor. „Sehr liebenswert von ihnen mich mit zu nehmen.“
Fasziniert beobachtet sie die Menschenmasse, die sich friedlich in den
drei Blocks gegenüber der Haupttribüne drängt. Die gleiche Menge
ihrer Artgenossen: es hätte zu Raserei, Mord und Totschlag geführt. „Ist mir ein Vergnügen. Meine Name ist Dirk
Best.“ Er sieht auf die Uhr der Anzeigetafel. Noch zwei Minuten bis
zum Anpfiff. Die Spieler sind mittlerweile wieder in den Kabinen
verschwunden. „Ihr Name hört sich französisch an?“ „Das ist richtig. Vor vielen Jahren kam ich nach
Deutschland und seitdem lebe ich hier“, antwortet der Drache ein wenig
abwesend. „Sie waren noch nie bei einem Fußballspiel?“
Der Stadionsprecher verkündet gerade die Aufstellungen. „Ein Fußballspiel?! Aha. ... Öh, nein. Ich
habe nur davon gehört.“ Langsam kommt Dirk die neue Bekanntschaft ein
wenig komisch vor. Will ohne
Eintrittskarte zu einem Zweit-Liga-Spiel, weiß nicht einmal das sie zu
einem Spiel geht. Seltsam. Scheint ein wenig weltfremd zu sein, die
Gute. Er hofft, daß das Match reibungslos über den Rasen läuft
und seine Kickers drei Punkte im Kampf gegen den Abstieg holen. Und er
hofft außerdem, das der Drache, den mehrere Leute bereits in der Gegend
gesichtet haben wollen, nicht ausgerechnet in den nächsten knapp zwei
Stunden vom Flutlicht angezogen wird, wie die Motte vom Licht. Wieder
ohne zählbares Ergebnis dazu stehen, kann sich der Verein nicht
leisten. Genauso wenig wie der heutige Gegner. „Wer spielt denn eigentlich?“ reißt Amoné
ihren Sitznachbarn vorsichtig aus seinen Gedanken, als die Mannschaften
das Spielfeld betreten. „Die in den rot-weißen Trikots sind die
Offenbacher. Die blau-weiß Gekleideten sind vom Karlsruher SC“, erklärt
Dirk geduldig. „Und die drei Schwarzen? Woher kommen die?“
Die Französin schenkt ihm ein entwaffnendes Lächeln. „Das ist der Schiedsrichter und die beiden
Linienrichter.“ * <Angriff der Offenbacher Kickers in der elften
Spielminute über rechts. Die Flanke des Flügelflitzers senkt sich gefährlich
in den Strafraum. Da steht Simon, der nimmt den Ball direkt aus der Luft
und schiiiiiiießt.> Der hr-Kommentator in seiner Kabine ist hörbar
aus dem Häuschen. Zwanzigtausend Zuschauer springen auf, die Ränge
verwandeln sich in ein Tollhaus. Bengalische Feuer werden im Fan-Block
entzündet, Papierschnitzel erheben sich über die Köpfe der Fans. Ein
Schrei voller Inbrunst und Erleichterung hallt über den abendlichen
Berg: <TOOOOOOOOOR!!!> Die Offenbacher Anhänger tanzen auf den Tribünen,
klatschen sich ab oder liegen sich in den Armen. Die Spieler bilden an
der Eckfahne einen Haufen über dem Torschützen und erdrücken ihn fast
vor Freude unter sich. Nur die kleine Französin sitzt wie verloren
inmitten der feiernden Menge. „Was ist denn jetzt passiert?“ fragt
sie erschrocken und verwundert über den plötzlichen Aufruhr um sie
herum. „Offenbach führt 1:0!“ Oh, ha. Das kann ja noch heiter werden heute abend. Copyright © Dezember 1999 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach |