DRACHEN

 

Neugier

 

von

 

Holger Kuhn

 

 

Arreste flog einige Kreise über dem Wald, bis sie eine geeignete Lichtung fand, auf der sie trotz ihrer immensen Größe problemlos landen konnte. Langsam sank sie zwischen die Bäume nieder, legte die Flügel an und schaute sich aufmerksam um. Die Lichtung quoll über vor sattem, saftigem Grün, das in den mannigfaltigsten Formen den Wald beherrschte. Im Hintergrund sangen einige Vögel ihr Lied, Insekten brummten durch die morgendlichen Sonnenstrahlen. Hier und dort raschelte es im Unterholz, wenn ein Nager sich durch das Laub bewegte. Arreste entschloss sich ein Weilchen zu bleiben und sich am Anblick der Natur zu laben.

An der Stirnseite der Lichtung stand eine Bank, auf die der Drache zuging. Auf der Bank lag etwas, daß die Neugier des Tieres geweckt hatte. Als Arreste näher kam, erkannte sie eine Zeitschrift, die jemand dort hatte liegen lassen. Auf dem Umschlag war eine attraktive junge Frau abgebildet, die leicht bekleidet auf einem chromblitzenden Motorrad saß. Arreste hatte solche Maschinen schon von hoch oben am Himmel beobachtet, wie sie allein oder in Pulks über die Straßen fegten und sich verwundert gefragt, warum und wozu die Menschen diese Dinger benutzten. Ob es etwas besonderes damit auf sich hatte, solch eine Vorrichtung zu benutzen. Hatte es einen speziellen Nutzen für den Fahrer oder einen Sinn, den Arreste dahinter suchte? Oder machte das Bewegen einer solchen Maschine einfach nur Freude und es verbarg sich gar kein Sinn dahinter, den Arreste finden konnte?

Das Drachenweibchen überflog die Schlagzeilen auf dem Umschlag in denen von Bikern, Clubs und Colours[1] die Rede war. Neugierig geworden blätterte sie durch das Heft und bestaunte die phantasievollen Kreationen der Maschinen und die entblätterten Schönheiten, die diese präsentierten. Hin und wieder vertiefte sie sich in einen Artikel, verstand aber nur wenig von dem dort geschriebenen, da es zumeist technisches oder irgendwelche Problemen von irgendwelchen Clubs mit irgendeiner Polizei beinhaltete. Arrestes Neugier war geweckt und sie beschloss zu ergründen, was es mit dem Motorradfahren auf sich hatte.

 

Arreste stand in ihrer menschlichen Gestalt zwischen all den Krafträdern und war geblendet vom Chrom und den darin gleißenden Sonnenstrahlen. Mehrere Dutzend der polierten Maschinen standen nebeneinander aufgereiht auf dem Parkplatz. Darumherum tummelten sich Menschen, die miteinander fachsimpelten oder einfach nur fasziniert den Anblick, sowie den Geruch nach Leder und Öl genossen. Mehr als einer der meist bärtigen Männer warf Arreste einen bewundernden Blick zu. Die anwesenden Frauen ignorierten sie geflissentlich.

Das Drachenweibchen zeigte sich in weiblicher Gestalt mit langen glatten Haaren bis zum Hintern. Ihre Beine steckten in engen Jeans, die schmalen Füße zierten hochhackige Schuhe. Unter der kurzen Weste verbarg ein trägerloses, bauchfreies Top ihren festen Apfelbusen, das eine nahtlose Bräune erahnen ließ. Arreste genoss die vielsagenden Blicke der Umherstehenden.

Lächelnd umrundete sie den Pulk und trat zu einem blonden Mann, der sich anschickte seine Harley zu besteigen. Seine lange Haarflut wurde von einem roten Tuch gebändigt, das er sich um die Stirn gebunden hatte. Ein Lächeln durchzog seinen Drei-Tage-Bart, daß zwei Reihen makelloser Zähne enthüllte, als er der Frau gewahr wurde. Die blaugrünen Augen blitzten schelmisch.

<Nimmst du mich ein Stück mit?>

<Gern. Wohin soll’s denn gehen?>

<Egal. Fahr einfach los.>

Donnernd erwachte der V-Motor zum Leben. Arreste schwang sich hinter dem Biker auf den Sozius und klammerte sich an diesem fest. Der Mann fingerte eine Sonnenbrille aus einer Tasche, setzte sie auf und brauste unter den neidischen Blicken der anderen davon.

 

Das Stahlross glitt grollend durch die Landschaft und zog dann und wann die neugierigen Blicke der Passanten auf sich, wenn sie durch bewohntes Gebiet fuhren. Die Stadt lag weit hinter den beiden und sie durchquerten unberührte Natur, die nur vereinzelt von Dörfern und Gehöften unterbrochen wurde. Sanfte Hügel schoben sich zu beiden Seiten der Straße in die Landschaft, die unter üppigem Grün verborgen lagen. Rechts und links huschten Bäume vorbei, deren saftiges Grün der Drache bewunderte. Sanft schmiegte er sich an den Rücken vor ihm und schlang die Beine um den Oberkörper.

Der Fahrtwind blies Arreste ins Gesicht und ließ ihr Haar wie eine Flagge wehen. Die Luft roch nach den blühenden Pflanzen, die sich am Straßenrand aufgestellt hatten, als würden sie ihnen Spalier stehen. Hin und wieder schoss ein Insekt dicht an ihrem Kopf vorbei und verschwand wieder in der Vegetation. Im Vorbeifahren schnappte sie immer wieder kurze Sequenzen aufgeregten Vogelgezwitschers auf.

Die Gleichförmigkeit der Fahrt machte sie schläfrig. Zugleich ließ der aufregende Duft ihres Vordermannes erregende Bilder und Gedanken durch ihren Geist huschen. In den Waldgegenden wurde es merklich kühler, was Arreste keineswegs als unangenehm empfand. Ganz im Gegenteil, es kühlte ein wenig ihre Hitze, die sie ihn der Nähe dieses aufregend gewachsenen Mannes befiel. Das gleichmäßige Vibrieren des schweren Motorrades unter ihr verstärkte diese Hitze noch und sie beschloss ihren Chauffeur in einen ruhigen Waldweg zu dirigieren.

 

*

 

Leise murmelnd schlängelte sich der Bach durch die dichte Vegetation an der keinen Wiese vorbei, auf der es sich das ungleiche Pärchen gemütlich gemacht hatte. Die Äste und Zweige der Bäume hingen tief über dem Wasser, ließen kaum genug Licht hindurch für die Pflanzen und Tiere die an ihm lebten. Zu beiden Seiten säumte ein dichter Moosgürtel die Ufer. Unter den Bäumen hatte sich im Laufe der Zeit ein dicker Teppich aus herabgefallenem Laub und Nadeln angesammelt, der den Tieren Schutz und Nahrung bot.

In den golden einfallenden Sonnenstrahlen tanzten Staub, Pollen und Insekten ihren ureigensten Reigen des Lebens. Ab und an durchbrach ein entferntes Quaken die vielfältigen Geräusche des Waldes.

Die beiden Ausflügler lagen dicht beieinander inmitten der kleinen Wiese, unweit des vorbeifließenden Baches. Das Motorrad stand einige Meter abseits, am Ende eines lange Zeit nicht mehr benutzten Weges.

<Warum fährst du diese Maschine?> wollte Arreste wissen.

Der Gefragte sah sie einen Moment lang an, bevor er ihr antwortete. <Das ist eine Frage, auf die du von tausend befragten Leuten, tausend verschiedene Antworten bekommst. Für mich ist es ein Gefühl der Erhabenheit, wenn unter mir der Motor blubbert und dröhnt, sobald ich am Gas drehe. Dann bin ich unverwundbar gegenüber der Welt und allem darin. Ich bin frei und ungebunden, keinem Zwang verpflichtet.> Arrestes Gegenüber schwieg einen Augenblick. Sie sah ihm an, daß er nach Worten suchte, die seine Gefühle und Empfindungen richtig beschrieben. Der Drache hütete sich, diese Gedankengänge zu unterbrechen. <Wenn mir der Fahrtwind ins Gesicht bläst und ich über die Straßen gleite, vergesse ich alle Sorgen oder was mich auch immer bedrückt oder beschäftigt. Ich kann alles hinter mir lassen, die negativen Gedanken und Eindrücke werden aus meinem Kopf geweht und ich sehe viel klarer als vorher und erkenne dann das Wesentliche, Wichtige in meinem Leben.>

Wieder entstand eine kurze Pause, die ein Eichelhäher für seinen keckernden Warnruf nutzte. <Ausserdem ist mir der Zusammenhalt unter den Motorradfahrern sehr wichtig. Ich bin oft und gerne auf Treffen zu finden. Man lernt neue Leute kennen, fachsimpelt zusammen über die Maschinen, Frauen und Gott und die Welt. Und zu guter Letzt hebt man einen miteinander. Jaa, das ist der Grund, warum ich diesen Hobel da fahre.> Über die Schulter zeigte er auf sein chromblitzendes Gefährt.

Arreste dachte eingehend über die Worte des Bikers nach und glaubte ihn zu verstehen. Den Wind in den Haaren hatte sie bereits gespürt und es fiel ihr nicht schwer sich den Rest auch noch vorzustellen.

Langsam beugte sich die schöne Frau zu ihm hinüber. Mit einer Kralle anstelle des Zeigefingers tippte sie dem verblüfften Mann auf die Brust und lächelte ihn freundlich an. <Und wann fliegen wir?>

 

Copyright © Juni 2001 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach

 



[1] Emblem eines Motorradclubs, das als Aufnäher auf einer Leder- oder Jeansweste vom Member (Mitglied) getragen wird.