DRACHEN Schuld von Holger
Kuhn Amoné schob ihre tonnenschwere Gestalt aus der Höhle
und verharrte unbeweglich im Sternenlicht der Mainacht. Sie legte den
Kopf in den Nacken, bewunderte die funkelnden Sterne und sog die kühle
Luft in ihre geblähten Nüstern. Der Duft des Windes und der wolkenlose
Himmel kündeten von lauen Nächten und sonnigen Tagen. Sie genoss die
Stille und Dunkelheit des Gebirges, das doch so nah am pulsierenden Herz
der Großstadt lag, während ihr Gedanken und Erinnerungsfetzen aus
uralten Zeiten durch das Gedächtnis fuhren. Einige Minuten blieb sie so
sitzen, dann entfaltete sie
ihre Schwingen und stieg voll Leichtigkeit und Eleganz in den Himmel über
dem Taunus. Amoné drehte noch einige Runden in der Finsternis, die sie
wie ein seidener Schleier umfing, bevor sie sich ihrem eigentlichen
Ziel, den Lichtern der Stadt, zuwandte. * Theodor hielt die Flamme seines silbernen
Feuerzeuges an das Brandende der Zigarre und schmauchte genußvoll die
ersten Züge. Wieder einmal zog es ihn in die Nacht hinaus, um dort die
Ruhe und Entspannung zu suchen, die er in seinem Bett nicht fand, da ihn
viel zu viele Gedanken plagten. Gemächlich spazierte er durch die
Felder und Wiesen, die um das Mietshaus herum lagen, in dem er sich häuslich
eingerichtet hatte und genoß die Düfte und Geräusche der Natur.
Irgendwo über ihm fiepte sich eine Fledermaus ihren Weg durch die
Dunkelheit. Theodor liebte es, durch die finstere Nacht zu wandern und der Hektik des Tages zu entsagen. Genauso wie er es liebte, auf seinen Ausflügen eine exquisite karibische Zigarre zu rauchen und einen Schluck Malt dazuzunehmen. Zu keiner anderen Zeit des Tages konnte er sich so entspannen und die Gedanken ruhen lassen, wie in einer Nacht wie dieser. Zwar durchschnitt vereinzelt das Brummen eines Motors die Stille der Nacht, doch dies störte Theodor nicht weiter. Noch ruhte der Flugbetrieb über Rhein-Main für mindestens drei Stunden. Zeit genug zum Kraft und Ruhe tanken. Theodor schritt mitten auf der Straße über eine selten befahrene Brücke und erfreute sich an der Stille und seiner Zigarre. Er bog rechts in einen Feldweg und tauchte in die Dunkelheit und Einsamkeit der Natur. In einiger Entfernung zeichnete sich der Waldrand gegen die Finsternis des sternklaren Himmels ab. In den Büschen und Hecken raschelte nachtaktives Getier, eine Nachtigal sang ihr Lied. Theodor fühlte, daß sie es nur für ihn sang. Er ließ sich im Gras nieder und lauschte verzückt, während er an der Zigarre zog. Gänsehaut lief über seine Arme, als er sich seines Glückes bewusst wurde. Des Glückes die Natur in seiner ursprünglichen Form und Faszination erleben zu dürfen. Theodor sah sich aufmerksam um und ihm fielen Dinge auf, die ihn mit Freude erfüllten. Kleinigkeiten an denen die meisten seiner Mitmenschen achtlos vorübergingen und es nicht für wert hielten ihnen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Er war beseelt und gefesselt von den Wundern die Mutter Erde hervorbrachte. Theodor holte ein kleines Fläschchen aus seine Jacke und trank einen Schluck daraus. Der Inhalt rann heiß seine Kehle hinunter und verteilte sich brennend in seinem Magen. Wie er diesen schottischen Malt liebte. Theodor streckte sich auf der Wiese aus und ließ sich vom Zirpen der Grillen und Zikaden einlullen. Die Geräusche und Töne umwoben ihn wie einen Kokon, durch den nichts anderes mehr an sein Ohr drang und ihn nach und nach in die Schwärze des Schlafes schob. Eine Stunde später entließ der Kokon seinen Inhalt wieder in die Wirklichkeit, denn Theodor war kühl geworden. Benommen blickte er sich um und rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. Langsam war es an der Zeit nach Hause zurückzukehren und noch ein wenig an der Matratze zu horchen. Der Schlummer hatte ihm gut getan, aber um sein Hirn richtig zu erfrischen fehlten noch einige stunden in einem gemütlichen Bett. Mit diesem Bild vor Augen erhob er sich von seinem grünen Lager und machte sich auf den Weg. Wenige Minuten später passierte er eine einsame Laterne, als ihm ein schrankähnlicher Mann den Weg verstellte. Der Kerl stank fürchterlich nach Zwiebeln und Schweiß und sah ziemlich ungepflegt und abgerissen aus. Mehrere Lagen Flicken zierten die zerschlissene Armeejacke. Die fettigen Haare hingen ihm chaotisch in die Stirn. Der Mann gab Theodor seinen körperlichen Vorteil zu verstehen und verlangte harsch nach dessen Barschaft. In all den Jahren, die er nun schon in dieser
Gegend wohnte, war noch niemals ähnliches in diesem Ort geschehen.
Daher hatte Theodor mit allem gerechnet, nur nicht damit überfallen zu
werden. Dementsprechend hartnäckig stand er auf der Leitung und begriff
ersteinmal garnichts. <Was wollen sie?> fragte er verdutzt. <Hörst du schlecht? Dein Geld!> schnauzte
ihn der Räuber an. Theodors Augen weiteten sich, als er die Situation
endlich begriff. Er wurde überfallen. So etwas hatte er noch nie
erlebt. Was sollte er tun? Vergebens versuchte er sich die guten Ratschläge
der Fernseh-Polizisten ins Gedächtnis zu rufen, was ihm vor lauter
Aufregung aber gründlich mißlang. Sein Gegenüber wurde langsam unruhig, wie an den
nervösen Bewegungen und dem gehetzten Blick erkennen konnte. Theodor
tastete langsam und vorsichtig nach seiner Geldbörse und zog sie ebenso
langsam und vorsichtig hervor, um den Schurken nicht noch nervöser zu
machen. * Amoné beobachtete einige Augenblicke eine merkwürdige
Szene von hoch droben am Himmel. Ein Kerl in Aussehen und Statur einem
phantastischen Krieger ähnelnd, baute sich vor einem anderen Mann auf
und bedrohte diesen. Sie konnte die aggressive Haltung des Kriegers
schon von weitem erkennen und segelte ohne den Blick abzuwenden näher
heran. Intuitiv wusste das Drachenweibchen, daß dies
genau die Gelegenheit war, auf die sie gewartet hatte. Es senkte sich
unbemerkt hinter dem Rücken des Kriegers zu Boden. Augenblicklich stieg
ihr eine gräßliche Wolke aus Zwiebel- und Schweißgestank in die Nüstern,
die sie die Nase kraus ziehen ließ. In dieser Mischung war jedoch noch
eine weitere Komponente enthalten. Ein Duft, den nur eine starke Emotion
abzusondern vermochte. Amoné roch die Angst des anderen Mannes, als er
seine Brieftasche dem Krieger reichte. Wenige Sekunden später wandte sich der Räuber
zur Flucht und lief ihr direkt in die Klaue, die sich wie eine
Stahlklammer um dessen Brustkasten schloss. Theodor fuhr zurück als er
die Rippen bersten hörte und sah den Menschen im Todeskampf erzittern.
Dann erschlaffte die Person und bewegte sich nicht mehr. Der Tod würde bald eine weitere Seele in Empfang
nehmen können. Amoné fühlte wie das Leben aus dem Körper wich und
wandte sich an Theodor. <Du stehst nun in meiner Schuld. Eines Tages
werde ich sie einfordern! Sei also bereit!> Copyright © Oktober 2001 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach |