DRACHEN

 

Sehnsüchte

 

von

 

Holger Kuhn

 

 

Wieder einer dieser seltsamen Sonntagmorgende, an denen ich eingemummelt in meiner Decke vor mich hindöste. Vor meinem geistigen Auge erschienen wieder die gleichen Bilder wie schon viele Male zuvor. Eine seltsame Sehnsucht schlich in mein Herz und legte die Gedanken an andere, unwichtige Dinge lahm. Alles konzentrierte sich auf diesen einen Gedanken.

Meine Herzallerliebste nahm mich in die Arme und kuschelte sich eng an mich. Der zarte Duft ihrer Haut stieg in meine Nase und heftete sich an den Enden meiner Geruchsnerven fest. Ich rückte ein wenig näher an sie heran und gab mich wieder diesen wunderschönen Bildern hin. Aurelia drückte ihren weichen Körper in meinen Rücken und streichelte meinen Bauch. <Woran denkst du?>

<Ich sehe Bilder einer unberührten Natur. Bilder aus einer längst vergangenen Zeit, Bilder aus einer längst vergangenen Welt. Unsere Gegend hier vor vielleicht 5000 Jahren, als nur wenige Menschen über das Antlitz der Erde wandeln. Die wellige Silhouette des Taunus liegt in einem satten dunklen, fast schwarzen Grün vor mir. Im bizarren Spiel der vorüberziehenden Wolken aus Licht und Schatten mutieren die Farben zu allen Schattierungen im Spektrum dieser Farbe. Sobald die Wolken längere Zeit der Sonne weichen, leuchten die Hänge in einem verwaschenen, fleckigen Grün.

Es ist eine Landschaft die eine Sehnsucht in mir weckt. Eine Sehnsucht, die mich dazu anhält fort zu gehen und alles hinter mir zu lassen. Ich will nicht mehr jeden Morgen aufstehen und zur Arbeit fahren. Ich will mich nicht mehr mit unwichtigen Dingen herumärgern. Ich will mich nicht mehr mit Menschen herumplagen, denen Telefonanschlüsse wichtiger sind, als die eigene Familie. Ich will unabhängig sein und meine Brötchen nicht mehr tagtäglich mit sinnloser Arbeit verdienen. Ich will in einer Welt leben, in der die Gesundheit und der Fortbestand der Natur das höchste Gut sind.>

Nach einer kleinen Pause fuhr ich fort. <Ein Rudel Hirsche und Hirschkühe zieht im Morgennebel wachsam durch die urwüchsigen Wälder. Ein Fuchs jagt einen Hasen über eine ausgedehnte Wiese, der in wildem Zickzack zu entkommen versucht. Am Himmel zieht lautlos ein Bussard seine Kreise. Plötzlich stösst er auf einenen kleinen Nager herab und trägt die erlete Beute dann in seinen Horst. Ein Bär wandert duch den Taunus auf der Suche nach Futter. Hin und wieder bleibt er stehen und knabbert an jungen Trieben, die ihm jedoch nicht recht schmecken wollen. Ein Rudel Wölfe zieht gemeinsam seine Jungen groß ohne Not zu leiden. Not, die von uns, von den Menschen geschaffen wurde. Ich sehe das Paradies.>

Aurelia schob ihren Arm unter meiner Taille hindurch und drückte mich fest an sich. Ihr warmer Atem strich über meinen Nacken, bevor sie einen heißen Kuss hineindrückte. Ich konnte so herrlich schwach sein und so wunderschön meine Gefühle und Sehnsüchte in Worte fassen. Dafür liebte sie mich. Das ich auch noch die gleichen Sehnsüchte, wie Aurelia selbst teilte, rührte sie zutiefst. Eine einzelne Träne glitzerte auf ihrer Wange. Meine Liebste schloß die Augen und schnippte einmal kurz mit den Fingern der Rechten. Als sie ihre Augen wieder öffnete hatten sie einen seltsamen Glanz angenommen. Einen Glanz der keines Menschen Auge jemals beglücken würde. <Lass uns noch einen Moment kuscheln und nach dem Aufstehen ein wenig spazieren gehen.> Ihre Stimme klang sonderbar belegt.

 

*

 

Schon als ich mich aus dem Bett quälte, bemerkte ich die Veränderung. Sie war da, jedoch konnte ich sie nicht in Worte fassen. Noch war sie zu hintergründig, zu subtil für meinen verschlafenen Verstand.

Aurelia saß bereits am Frühstückstisch und goß mir eine Tasse Tee ein, als ich mich noch müde an der reich gedeckten Tafel niederließ. <Irgendwas ist anders heute. Bemerkst du es auch?>

Mein Gegenüber lächelte wissend, sagte jedoch keinen weiteren Ton. Um weiter zu bohren war ich noch viel zu unausgeschlafen, so lies ich es erst einmal bleiben und widmete meine Aufmerksamkeit den frischen Brötchen und dem köstlich duftenden Tee. Wenn Aurelia nichts zu dem Thema sagen wollte, so hatte dies sicher seine Gründe und die waren seit wir uns kannten immer triftig und wohl überlegt gewesen. Sie war kein normales Wesen und ich wunderte mich jeden Tag aufs neue, wieso sie ausgerechnet mich zu ihrem Herzallerliebsten auserkoren hatte. Im Gegensatz zu ihr war ich die sprichwörtliche graue Maus. Nicht nur vom Äusseren her, sondern auch von der intellektuellen Seite her betrachtet. Diese Frau besaß die Lebenserfahrung aus tausend Jahren und das Wissen sämtlicher Gelehrter, so schien es mir. Sie war das wundervollste Geschöpf dem ein Mensch begegnen konnte. Ihre Güte und Weisheit waren mit nichts anderem auf diesem Globus zu vergleichen.

 

*

 

Nachdem wir das gemeinsame Frühstück beendet hatten, verschwand ich im Bad und tauchte zwanzig Minuten später gestiefelt und gespornt wieder auf. Die Müdigkeit taumelte gerade durch den Abfluss ihrem Schicksal entgegen und der Schweiß der vergangenen heißen Nacht, war ihr vorausgefloßen.

 

Wenige Minuten später traten wir aus der Haustür. Der Anblick der sich mir bot, verschlug mir die Sprache und ich blieb wie angewurzelt stehen. Alles hatte sich verändert. Einfach so, über Nacht. Nichts war mehr so, wie ich es noch vom Vortag in Erinnerung hatte. Die Autos und Straßen waren verschwunden und rings herum wucherte üppiges, gesundes Grün, das jeden freien Quadratzentimeter verschlang. Keine Schrebergärten mehr oder Hochhäuser in der Ferne, die mit ihrer bloßen Anwesenheit das Auge beleidigten. Die Welt hatte sich verändert. Das war es also gewesen, das ich gespürt hatte als ich aus den Federn gekrochen war. Ich war plötzlich wie erschlagen. Ein Blick aus dem Fenster hätte genügt, um diese Ahnung zu erklären und zu bestätigen, das es sich nicht um ein Gespinst meiner Phantasie handelte.

Ich trat einige Schritte in den Hof und sah mich ungläubig um. Außer den natürlichen Geräuschen, war aus dem Grün kein anderer Ton zu vernehmen, der nicht dort hinein gehörte. Am Himmel zogen keine Flugzeuge ihre Warteschleifen mit Ziel Flughafen Frankfurt, die noch am Vortag im Minutentakt über das Haus gedonnert waren.

<Aurelia, was hat das zu bedeuten?> wandte ich mich meiner Gefährtin zu.

<Liebster, du wolltest doch fort. Fort in eine andere Zeit, eine andere Welt. Hier sind wir in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt ... in meiner Welt!>

  

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