Badetag

 

von

 

Holger Kuhn

 

 

Aufgrund meines Rückenleidens war ich an diesem strahlenden Sommertag wieder einmal unterwegs in das Badeareal unserer Stadt. Es bestand aus mehreren vorchristlichen Bauten, die die Jahrhunderte gut überstanden hatten. Nur hier und dort waren einige Ausbesserungen vorgenommen worden. In den Gebäuden konnte man sich solch gesunden Vergnügungen wie Massagen und Sauna, Wassertreten und Moor-, Thermal- oder Dampfbädern hingeben. Zum Schwimmen diente ein mehrere hundert Meter langer, gewundener Kanal, der sich über das Gelände schlängelte. Zu beiden Seiten des Ufers schloss sich ein mit Kopfstein gepflasterter Weg an, über den die Besucher die Thermen und Ruheräume erreichten.

So schritt ich nun in meinen neuen Kleidern über diesen Weg zu einem der Umkleideräume und entledigte mich dieser. Ich war in meinem schwarzen Lederwams und dem farbenprächtigen Seidenhemd, den Strumpfhosen und den ledernen Schuhen nach der neuesten Mode gekleidet.

Die Sonne hatte den Zenit bereits seit geraumer Zeit überschritten und sich das Bad dementsprechend gefüllt. Vorsichtig tappte ich in meinen weiten leinenen (linnenen?) Schwimmhosen über das feuchte Pflaster zum Kanal und ließ mich in das klare Nass gleiten. Ein steter Strom anderer Badegäste glitt an mir vorüber, in den ich mich nahtlos einreihte. Einige Zeit ließ ich mich in diesem Strom mittreiben, dann wechselte ich die Bahn und schwamm eine Zeit lang in die andere Richtung.

Ohne Vorwarnung berührte etwas meine Füße und zog mich in die Tiefe. Was es war konnte ich nicht erkennen, denn, zu meiner Schande muss ich gestehen, ich kann die Augen nicht unter Wasser offen halten. Also kämpfte ich in tintiger Schwärze um mein Leben. Ich durchlitt schreckliche Qualen, weil ich nicht wusste, wer oder was mich in die Tiefe zog. Es konnte Gott weiß was gewesen sein. Unverständlicherweise hatte ich keinerlei Atemprobleme. Ich konnte zwar keine Luft holen, aber Sauerstoff stand mir zur Verfügung. Gerade so, als besäße ich eine Pferdelunge. Mit all meiner Kraft kämpfte ich darum, zurück an die Oberfläche zu gelangen. Nach langem, zähem Ringen schaffte ich es endlich meinen Gegner abzuschütteln. Mein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche und ich öffnete prustend die Augen. Völlig erschöpft erklomm ich umständlich den Rand und verschnaufte kurze Zeit. Minuten später schleppte ich meinen schmerzenden Leib in einen der Ruheräume mit Blick auf das Meer, den ich noch kurz genoß, bis ich in einen unruhigen Schlummer fiel. Der Kampf gegen das Element und die erlebte Pein verlangten ihren Tribut.

Das Erlebte verfolgte mich bis in meine Träume.

Vor lauter Neugierde schlüpfte ich in die Person des Schwimmmeisters, um in dessen Körper noch einmal auf den Grund des Beckens zu tauchen. Faszinierenderweise stieß ich bei meinem Tauchgang auf Straßen aus Kopfsteinpflaster und einen kleinen zentral gelegenen Platz. Dieser Platz wurde rechts und links von gut erhaltenen Gebäuden gesäumt, die aussahen, als wären sie immer noch bewohnt. In der Mitte wuchsen mehrere Bäume und eine Reihe verschieden großer Büsche. Weit und breit war keine Begrenzung durch die Kanalwände zu erkennen. Hier unten existierte eine eigene, kleine Welt für sich.

Inmitten der Büsche pendelte ein Ding in der schwachen Strömung der nicht in diese Welt gehörte. Beim Heranschwimmen fand ich auf dem Grund des Kanals eine Leiche, die an den Fußknöcheln an einer Bodenplatte festgebunden worden war.

Intuitiv wusste ich, das der arme Teufel Selbstmord begangen hatte, obwohl doch alles auf ein Verbrechen hinwies. Woher ich dies so sicher wusste, konnte ich mir nicht erklären. Intuition, Instinkt, Eingebung? Ich vermochte es nicht zu sagen.

Bei dem Unglücklichen handelte es sich um einen recht bekannten Bewohner meines Wohnviertels, der schon seit längerer Zeit vermisst wurde. Nun konnte ich mir endlich erklären, wo dieser Mann abgeblieben war.

Sein Körper war mit Bahnen aus Leinen bedeckt, das Gesicht sah mumifiziert aus. Die Haut hatte im Laufe der Zeit eine dunkle, fast schwarze Farbe angenommen. Der Tote hielt die Arme nach oben gestreckt, als wolle er nach dem Sonnenlicht greifen, das die verzerrt wirkende Szenerie hell erleuchtete. Ich musste mich vorhin beim Schwimmen in seinen Armen verheddert haben.

Kurzentschlossen brach ich den Schädel vom Rumpf und nahm noch den linken Schuh des Toten an mich. Wieder zurück in des Schwimmmeisters Unterkunft, wollte ich den Schuh mit einem meiner eigenen vergleichen.

 

Eine halbe Stunde später kehrte ich in mein Quartier zurück. Ohne Umschweife machte ich mich daran, die beiden Latschen miteinander zu vergleichen. Das geborgene Exemplar bestand aus dickem Rindsleder und besaß eine runde Form um die Zehen herum. Das Leder umschloß den Fuß fast vollständig, beließ nur den Spann nackt. Das gefundene Stück war in der Verarbeitung und dem Material viel gröber als meine eigenen Treter. Eine dicke Schnur hielt das Kleidungsstück an Ort und Stelle, die durch mehrere Schlaufen mit dem Leder verbunden war.

Zum Trocknen legte ich die beiden Schuhe auf die, an der Haustür angebrachte, Ablage. Meine Tür war der eines Pferdestalls nachempfunden. Ich konnte sie halbieren. Das heißt, während die untere Hälfte verschlossen blieb, konnte der obere Teil durchaus geöffnet sein. So, wie zu diesem Zeitpunkt.

Indessen das Material trocknete, lehnte ich im Haus neben der Tür, unsichtbar für Passanten. Nach wenigen Minuten näherte sich eine stämmige Person, die eine Maske vor dem Gesicht trug. Die Karnevalszeit war schon längst vorüber, deshalb kam mir der Kerl verdächtig vor. Vorsichtig lugte ich mit einem Auge um den Türpfosten. Dabei beobachtete ich, wie sich die Gestalt wachsam den beiden Schuhen näherte und sich beim Näherkommen verstohlen umblickte.

Diebesgesindel! Fuhr es mir durch den Sinn. “Buh!” Schreiend, sprang ich aus meiner Deckung, erschreckte den Unhold derartig, das dieser, kreischend und wild mit den Armen fuchtelnd, panikartig floh ...

 

Unvermittelt sprang der Radiowecker an und der Moderator einer lokalen Morgensendung schreckte mich mit seinem Geschwafel aus dem Schlaf. Verwirrt, mit rasendem Herzen, sank ich wieder zurück in die Kissen.

 

 

Copyright © Januar 2001 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach