Die Ebon Hawk

 von

 Holger Kuhn

<Guten Morgen, Doktor Bucher. Haben Sie gut geschlafen?>

<Guten Morgen, Sir. Danke, wie ein Bär.>

<Dann haben sie jetzt sicher einen Bärenhunger.> lachte der Earl of Somerset und führte den jungen Deutschen in einen Saal mit einer Tafel, die für zwei Personen gedeckt war. <Setzen Sie sich und greifen sie zu.>

Der Earl war ein Mann, der trotz seines Alters einen dichten Schopf schlohweißen Haares sein Eigen nannte. Seine wachen Augen blinzelten belustigt den jüngeren Mann an.

<Vielen Dank, Sir.> antwortete Marten und tat sich von dem gebratenen Speck auf. Der Adelige tat es ihm nach und die beiden ungleichen Männer ließen es sich eine Weile lang schweigend schmecken.

Über seinen Gastgeber Sir Joseph Stone, Earl of Somerset, wusste Marten nur wenig. Der Schotte galt als ein begeisterter Förderer der Wissenschaft, der jährlich ein erkleckliches Sümmchen verschiedenen Instituten zukommen ließ. Bucher schätzte ihn auf etwa sechzig Jahre, aber genauso gut konnte der Mann ein Jahrzehnt jünger oder auch älter sein.

<Wo spielt der VfB Oldenburg gerade?> durchbrach Sir Joseph unvermittelt die Stille.

Sichtlich überrascht ließ Marten die Tasse sinken. <Sir, ich verstehe nicht?>

<Ihr Lieblingsverein - in welcher Liga spielt Oldenburg gerade?>

Völlig aus dem Tritt gebracht, dachte Doktor Bucher einen Moment lang nach, ehe er antwortete. <Regionalliga Nord.>

Hatte sich sein Gastgeber so eingehend über ihn informiert, fragte sich Marten, während er den letzten Streifen Speck in kleine Stücke schnitt. Ehe er nach dem Rührei griff, blickte er über die Tafel hinweg zu seinem Gastgeber.

<Sagen Sie Sir, aus welchem Grund bin ich hier?>

Joseph Stone, Earl of Somerset, nahm ungerührt einen weiteren Bissen, ehe er antwortete. <Doktor Marten Bucher, sie sind mit ihren 29 Jahren bereits Doktor der Physik. Ihnen liegen Angebote renommierter Universitäten vor, einen ihrer Professorenstühle zu besetzen. Sie gelten als der geistige Erbe Stephen Hawkings und somit als einer DER Köpfe der Teilchenphysik. Es war nicht leicht sie von ihrem Forschungsprogramm loszueisen und ihnen einige freie Tage zu ermöglichen.> Genüßlich nahm der Earl einen Schluck seines Darjeelings. <Es gibt etwas zwischen hier und dem Universum, dass ich ihnen gerne zeigen möchte.>

Neugierig blickte Marten über die Tafel. <Und das wäre?>

<Das verrate ich ihnen nach dem Frühstück.>

 

*

 

Die Halle stand inmitten eines viele Hektar großen Grundstückes, bestens zwischen hohen Bäumen und undurchdringlichen Hecken verborgen. Selbst dann nur schwer zu entdecken, wäre die parkähnliche Anlage nicht durch eine viele Jahrzehnte alte Mauer vor neugierigen Blicken abgeschirmt.

Durch eine kleine Stahltür betraten Sir Joseph Stone und Doktor Marten Bucher den Hangar. Martens Augen benötigten einige Sekunden bis sie sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Derweil war Sir Joseph an ein kleines Terminal herangetreten. Zwei Sekunden später schob sich die eine Hälfte der Decke unter die andere und offenbarte einen ungehinderten Blick in den morgendlichen Himmel.

Vor den beiden Männern erhob sich eine Konstruktion aus Stahl und Metall in ihrer ganzen ebenholzfarbenen Pracht.

Die Augen des Doktors weiteten sich und er stand einige Augenblicke mit offenem Mund vor dem Gebilde, unfähig etwas zu sagen.

<Sir Joseph, ist es das, wofür ich es halte?> fragte der Wissenschaftler atemlos.

<Ganz richtig. Vor ihnen schwebt ein Raumschiff.> Sir Joseph lächelte wissend.

Tausend Fragen wirbelten Marten gleichzeitig durch die Gehirnwindungen. Doch ehe er auch nur eine einzige stellen konnte, unterbrach Sir Joseph seine Gedankengänge.

<Sie haben bestimmt unendlich viele Fragen, die ich Ihnen gerne beantworten werde.> schmunzelte der Earl of Somerset, der das riesige Fragezeichen auf Martens Gesicht erkannt haben musste. <Aber alles zu seiner Zeit.> Mit einer Geste bat er seinen Gast ihm zu folgen. <Willkommen auf der Ebon Hawk.>

Fassungslos stand Marten noch einige Augenblicke vor dem Raumgleiter und sog dessen Anblick in sich auf.

Inmitten des riesigen Hangars, in dem bequem ein weiterer Gleiter Platz gefunden hätte, schwebte das Schiff frei in der Luft. In seiner Form und Bauweise erinnerte es an den Rasenden Falken aus den „Krieg der Sterne“-Filmen - nur wesentlich eckiger und kantiger. Marten schätzte die Ebon Hawk auf gut und gerne dreißig Meter Länge und zwanzig Meter Breite, bei einer Höhe von etwa fünf bis sechs Metern.

 

Über eine kurze Rampe führte der Earl seinen Gast durch den Bauch des Raumschiffes ins Cockpit. Entgegen Martens Erwartungen war das Innere nicht von kaltem Metall geprägt. Helle, warme Brauntöne bestimmten das Gros der Einrichtung.

An den Wänden entdeckte er Maserungen wie bei echten Hölzern. Diese verliehen dem Interieur eine edle Optik und ließen keine Kälte im Innern aufkommen.

Ohne Umschweife ließ sich der Earl of Somerset auf dem Pilotensitz nieder. <Setzen Sie sich. Lassen sie uns einen kleinen Ausflug machen.>

Sir Joseph beugte sich über das ausladende Instrumentenpult. Es hatte die Form eines Zeichenbrettes und war über und über mit Schaltern, kleinen Hebeln, Schiebereglern und digitalen Anzeigen übersät.

Marten nahm neben dem Earl Platz und schloss den Sicherheitsgurt, als auch schon die Triebwerke leise zu surren begannen. Wenige Augenblicke und Tastendrucke später, löste sich das Schiff gemächlich aus seiner Erstarrung und stieg senkrecht in den stahlblauen Himmel empor. Zweihundert Meter über dem Hangar zündete Sir Joseph die Triebwerke und sie schossen in einem steilen Winkel den Sternen entgegen.

 

Wenige Minuten und dreihunderttausend Kilometer später verharrte die Ebon Hawk auf der Mondumlaufbahn. Beeindruckt genossen die beiden Reisenden den grandiosen Anblick des Blauen Planeten, über den die Nacht hereinbrach.

Unvermittelt wandte Marten den Blick von der Erde ab. <Sir? Erzählen Sie mir die Geschichte dieses Raumschiffes.>

Einen Moment lang ließ sich Sir Joseph Zeit mit der Antwort. <Es tut mir Leid, aber ich kann ihnen nicht wirklich viel erzählen. Ich kann ihnen nur soviel sagen, dass die Hawk das Geschenk einer fremden Rasse ist.> Am Klang der Stimme erkannte Marten, dass dies die endgültige Antwort war.

 

*

 

Die Amerikaner waren also tatsächlich hier oben dachte Marten als er einen Blick aus dem Gleiter warf. Keine einhundert Meter unter ihm lagen die Überreste der ersten Apollo-Mission verstreut. Einsam und reglos stand die amerikanische Flagge in der staubigen Landschaft.

Sir Joseph landete die Ebon Hawk unweit der Überreste und stoppte die Triebwerke. Augenblicklich verstummte das Surren. Stille breitete sich im Cockpit aus, das nur hin und wieder vom Reiben der Kleidung auf den Ledersitzen unterbrochen wurde.

Ehe die Stille unangenehm zu werden drohte, richtete Marten eine Frage an seinen Begleiter. <Earl of Somerset, welchen Antrieb hat dieses Schiff?>

<Vergessen Sie den Earl, Marten, nennen sie mich Sir Joseph.>

<Vielen Dank, Sir Joseph> lächelte Marten. <Womit wird dieses Schiff angetrieben?> 

<Ein Graviton-Emissions-Antrieb bewegt die Ebon Hawk durch den Raum.> Und vielleicht auch durch die Zeit dachte Sir Joseph bei sich. <Dieser Graviton-Emissions-Antrieb> fuhr er fort <basiert auf der Beschleunigung von Gravitonen über die Geschwindigkeit des Lichtes hinaus. Damit lässt sich der Gleiter auf immerhin 150.000 Kilometer pro Sekunde beschleunigen.>

<Gravitonen die auf Über-Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, sagen sie? Hmm. Quantengravitation also?> Nachdenklich rieb Marten sich das Kinn. <Nach der allgemein anerkannten Lehrmeinung dürften keine Gravitonen existieren. Aus dem einfachen Grund, dass sich Gravitonen bisher jedem Versuch erfolgreich widersetzten, sich in den Teilchenzoo integrieren zu lassen. Das Graviton lässt sich einfach nicht in das Quantenmodell einfügen, dass darauf beruht, dass alle Kräfte in Elementarportionen, also Quanten, aufgeteilt werden.> erläuterte der Doktor skeptisch. <Die so zerlegten Kräfte lassen sich in der Quantentheorie und nur dort exakt berechnen. Dummerweise lässt sich das Graviton bisher nicht zerlegen.>

Einen Augenblick schloss der Physiker die Augen und dachte intensiv nach.

<Das würde bedeuten, dass dieser Antrieb der Beweis für die  Stringtheorie ist. Die Wissenschaft müsste sich von der Quantentheorie verabschieden und komplett umdenken.> resümierte Marten, während er sich erneut das Kinn massierte. <Sind sie sicher, das die masselosen Gravitonen beschleunigt werden und nicht die Masse tragenden Graviphotonen?>

Sir Joseph zuckte nur mit den Schultern. <Deshalb sind sie hier. Finden sie es heraus.> Schwungvoll schob er den Schubregler auf das Maximum. Marten wurde in den Sitz gepresst.

 

*

 

<In wenigen Sekunden tauchen wir in die Mars-Atmosphäre ein.> sagte Sir Joseph. <Während wir die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre messen, hole ich uns einen Kaffee. Danach zeige ich Ihnen den höchsten Berg unseres Sonnensystems.>

Sir Joseph verließ den Raum und kam nach kaum drei Minuten mit zwei Bechern in den Händen zurück. <Den Kaffee wie immer schwarz mit einem Stück Zucker!?> stellte er mehr fest, als das er fragte.

Vorsichtig nahm Marten den Becher entgegen und wunderte sich erneut, wie aufmerksam sein Gastgeber ihn beobachtete.

<Warum haben sie gerade MIR die Ebon Hawk gezeigt?> fragte Marten unvermittelt. <Doch nicht, nur um mit mir durch das Sonnensystem zu gondeln und interessante Gespräche zu führen?>

<Marten, sie wurden mir als kluger und kreativer Kopf geschildert, der noch dann einen Einfall hat, wenn andere bereits aufgegeben haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie der einzige sind, der dem Graviton-Emitter seine Geheimnisse entlocken kann. Ich habe ihnen ein Angebot zu machen. Ich möchte, dass sie den Graviton-Emitter erforschen und der Menschheit nutzbar machen. Sie bekommen die besten Physiker, Chemiker, Astronomen zur Seite gestellt, die sie benötigen. Sie müssen mir nur sagen, wen sie haben wollen.>

<Das wird nicht ganz so einfach sein.> entgegnete Marten. <Ich habe noch einen Vertrag mit dem Max-Planck-Institut zu erfüllen.>

<Machen sie sich darüber keine Gedanken. Darum kümmere ich mich.> Genüsslich nippte Sir Joseph an seinem Kaffee. <Also was sagen sie?>

<Nur unter einer Bedingung.>

Erwartungsvoll sah der Earl of Somerset den jungen Deutschen an.

<Sie bringen mir bei, wie man die Ebon Hawk fliegt.>

Laut lachte Sir Joseph auf und begann Marten die Handhabung des Raumschiffes zu erklären.

 

<Möchten sie die Hawk steuern?> fragte der Earl zwei Stunden später.

Kurz leuchteten die Augen des Doktors auf. <Wenn sie glauben, ich könnte es bereits fliegen, dann gerne.>

<Dann bringen Sie uns zuerst zum Olympus Mons.>

 

*

 

In den nächsten Tagen stellte Marten eine Liste aller möglichen Wunschkandidaten auf, mit denen er an diesem einzigartigen Projekt arbeiten wollte. Dabei heraus kam ein Stück Papier mit mehr als drei Dutzend Namen darauf – allesamt Experten auf ihrem Gebiet. Somit steckte Marten in einem Dilemma. Sir Joseph stellte ihm zwar erhebliche Mittel zur Verfügung, dennoch waren fast vierzig Mitarbeiter kaum noch zu lenken. Dem Earl und ihm schwebte ein kleines Team von maximal zwölf Wissenschaftlern vor, die schnell und effektiv arbeiteten. So grübelte er noch einige Tage über der Liste, bis er die Namen auf die gewünschte Anzahl zusammengestrichen hatte.

 

Gleichzeitig dachte Marten darüber nach, wie er die Hawk auf Herz und Nieren testen sollte. Sein Hauptaugenmerk lag auf dem Graviton-Emissions-Antrieb. Zuerst wollte er sich alle auffindbaren Informationen über das Schiff beschaffen - vielleicht fanden sich sogar die Baupläne in irgendeiner virtuellen Ecke des Bordcomputers. Damit würde Marten dem Triebwerk bereits einige wichtige Details entlocken können.

Während er noch nach Informationen forschte, ließ er an der Stirnseite des Hangars eine Art Kommandozentrale und Messzentrum einrichten. Die fensterlosen Wände und die einzige Tür ließ Marten mit massiven Bleiplatten verkleiden.

 

*

 

Neben der Ebon Hawk besprachen Dr. Walter Kreznik und Marten den nächsten Versuch. Sir Joseph betrat den Hangar und gesellte sich ohne Umschweife zu den beiden Männern.

<Hallo Marten, haben sie schon gehört? Der VfB Oldenburg hat gestern den Aufstieg in die 2. Liga geschafft.> Sir Joseph lächelte fröhlich.

Erstaunt starrte der Wissenschaftler sein gegenüber einige Sekunden lang an. <Wie kommt es, dass sie sich für den VfB Oldenburg interessieren?>

<Ich kenne sie besser als sie glauben.> sagte Sir Joseph geheimnisvoll.

<Manchmal glaube ich, sie kennen mich besser, als ich mich selbst kenne.> entgegnete Bucher. <Sie beeindrucken mich mit ihrer Menschenkenntnis immer wieder.>

Ohne weiter auf die Bemerkung einzugehen, zog Sir Joseph einen Umschlag aus der Innentasche seines schwarzen Anzugs. Ehe er ihn seinem Mitarbeiter überreichte, suchte er dessen Blick und hielt einen Moment inne. <Mir scheint, es ist an der Zeit ihnen dies hier zu überreichen. Sie sollten die Zeilen noch vor dem nächsten Experiment lesen.> sagte er eindringlich. <Außerdem ist das die Erklärung meiner "Menschenkenntnis", wie sie es so elegant nannten.>

Verständnislos blickte Marten auf den Umschlag. <Was ist das?>

<Lesen sie selbst. Vorher würden sie mir doch nicht glauben.> entgegnete der Earl of Somerset.

Der Wissenschaftler nahm den Umschlag an sich, "Dr. Marten Bucher" stand von Hand geschrieben auf der Vorderseite. Die Schrift kam ihm bekannt vor. Langsam öffnete er das Kuvert, zog ein gefaltetes Blatt daraus hervor - und hielt einen Brief in der gleichen Handschrift in den Händen. Als er die ersten Zeilen überflogen hatte, dämmerte ihm, woher er diese Schreibe kannte - es war seine eigene.

Fassungslos starrte der Doktor auf die Zeilen und begann zu lesen.

 

Hallo mein anderes Ich,

 

wenn Du diese Zeilen liest, weile ich nicht mehr unter den Menschen. Mir wird es besser denn je ergehen, also denke nicht zu sehr über "meine" Zukunft nach - wichtig ist "deine" Zukunft.

Ich schreibe Dir diese Zeilen genau sechs Jahre und dreizehn Tage vor unserer Geburt. Hört sich unmöglich an, ist aber wahr.

Damit Dir nicht das gleiche widerfährt, habe ich mir in den letzten Monaten zusammen mit Sir Joseph eine Menge Gedanken über dein bevorstehendes Experiment gemacht.

Ich habe Dir eine Skizze des Versuchsaufbaus beigelegt. Meine Vermutung habe ich in kurzen Worten darauf beschrieben.

 

Mach's gut, halt die Ohren steif

und viel Erfolg

 

Marten

 

 

Irritiert las der Physiker den Brief noch einmal. Auch jetzt konnte er kaum fassen, wessen Zeilen er da las. Konsterniert blickte er Sir Joseph an und suchte in dessen Gesicht nach einem Anzeichen für einen Scherz. Er konnte kaum glauben, das diese Zeilen von ihm selbst stammten.

<Seien Sie versichert, Marten, es handelt sich hier um keinen Scherz. Diesen Brief haben Sie geschrieben und mir aufgetragen ihn ihnen zu geben.> Sir Joseph schien Martens Gedankengänge erraten zu haben.

Wortlos ließ Bucher Sir Joseph stehen und ging sehr langsam zu seinem Büro. Auf dem Weg dorthin studierte er erst die Erläuterungen und dann die zugehörige Skizze eingehend.

Sein anderes Ich glaubte an einen Fehler im Versuchsaufbau. Eine Fehlkonstruktion der Plattenelektroden die die entstandenen Energiemengen nicht vollständig ableiten, sondern die Energien unkontrolliert an die Umgebung abgeben. Schuld daran seien die Beschaffenheit und die verwendete Titan-Teflon-Legierung.

Sein anderes Ich schlug vor, die Plattenelektroden gegen Vakuum-Gravitations-Elektroden auszutauschen. Diese würden die ausgestoßenen Gravitations-Energien um das 1000-fache besser in die Messrechner einspeisen und vorhandene Graviton-Massen effektiver speichern.

Auf der Skizze entdeckte Marten eine schematische Zeichnung dieser Vakuum-Gravitations-Elektroden. Er ließ die Unterlagen sinken und überlegte, wie lange es wohl dauerte, diese neuartigen Elektroden herstellen zu lassen.

 

*

 

Über die erste Zeile eines Berichtes gebeugt, saß Marten in seinem Büro. Mühsam versuchte er einen Ansatzpunkt zu finden, das vorangegangene Experiment in Worte zu fassen. Seit zwei Stunden brütete er bereits über dem fast jungfräulichen Blatt Papier. Vergeblich versuchte er sich zu konzentrieren, doch seine Gedanken wanderten immer wieder zu dem Brief, den er sich selbst geschrieben hatte - vor 35 Jahren - sechs Jahre vor seiner Geburt.

 

Unbeobachtet flatterte ein Tagpfauenauge durch die Halle. Lange Zeit suchte das Insekt einen Weg nach draussen, ehe es zu Boden schwebte. Erschöpft lies es sich auf einer der beiden Vakuum-Kugeln nieder.

 

<Der Versuchsaufbau ist komplett. Wir können mit dem Experiment starten.> unterbrach Dr. Deidre Jones Martens Gedanken.

Froh über die Unterbrechung, erhob er sich und folgte der Wissenschaftlerin in den Hangar.

<Wir haben die Plattenelektroden gegen Vakuum-Gravitations-Elektroden ausgetauscht, Doktor Bucher. Wie sie es sagten.> bemerkte seine Mitarbeiterin. <

Ich kontrolliere nochmals den Aufbau. Gehen sie bitte ins Messzentrum und achten darauf, das der Antrieb erst hochgefahren wird, wenn ich anwesend bin!> sagte er zu Dr. Jones. <Dann können wir mit dem Versuch beginnen.>

Marten stieg über das unterarmdicke Kabel, das die beiden Vakuum-Gravitations-Elektroden vor den Auslassschächten der Ebon Hawk mit den Hightech-Rechnern der Messzentrale verband.

Vielleicht sollten wir die Graviton-Emission noch nicht unter voller Leistung abtasten. Am Besten lasse ich die Triebwerke nur bis zur halben Leistung hochfahren.

Zügig schritt Dr. Marten Bucher auf die beiden Messelektroden zu. Noch einmal überprüfte er die installierten Kabel, an denen er jede einzelne Steckverbindung kritisch ins Auge fasste. Zufrieden mit dem Ergebnis wandte er sich den beiden Vakuum-Gravitations-Kugeln zu. Diese standen im exakt vorausberechneten Abstand zueinander und zu den Triebwerksauslässen innerhalb des Versuchsaufbaus.

Als Marten die Oberfläche der rechten Kugelelektrode auf Beschädigungen untersuchte, saß dort ein kleiner Schmetterling. Vorsichtig näherte er den Zeigefinger dem Insekt. <Na, mein Kleiner, wie kommst du denn hier herein?>

 

Zur gleichen Zeit stieben Funken aus einem Kabel im Bauch der Ebon Hawk. Ein winziger Lichtbogen spannte sich zwischen den Vorderzähnen einer Maus und der angenagten Supraleitung.

 

*

 

Lange Zeit fiel Marten durch gleißendes Licht, das seine Augen blendete. Allmählich verblasste das Gleißen und wurde zu einem Pulsieren. Gleichzeitig veränderte es sich zu einer Kaskade aus Farben, die lautlos um ihn herum tosten. Seine Augen gewöhnten sich an die bunte Flut und ließen ihn wieder Konturen erkennen.

Gefangen in einem Strom von Licht, wurde der Forscher durch Raum und Zeit getragen. Ihm war, als fiele er durch die Unendlichkeit - mitten durch regenbogenfarbene Lichtwellen und Lichtteilchen von denen er abgebremst wurde, bis sein Fall sanft endete.

Obwohl er weder wusste wo er sich befand, noch was mit ihm geschah, empfand Marten keinerlei Furcht. Beeindruckt von der Vielfalt schwebte der Wissenschaftler durch pulsierende Farben die langsam verblassten. Aus der Fülle schälten sich Umrisse. So sehr er sich auch auf die Umgebung konzentrierte, es wollte ihm nicht gelingen Einzelheiten zu erkennen. Alles blieb seltsam verschwommen, voller Schlieren und Schleier, die seine Augen nicht durchdringen konnten.

 

Copyright © Januar 2007 Holger Kuhn, Dietesheimer Str. 400, 63073 Offenbach