Gedanken

 

von

 

Holger Kuhn

 

 

Wenn ich einmal in das Reich des Herrn eintrete, dann möchte ich ihm als Schutzengel dienen.

Woher dieser Gedanke so plötzlich gekommen war, konnte sich der junge Mann am Steuer der  schwarzen Limousine nicht erklären. Bevor er noch näher darüber nachdenken konnte, war die Eingebung ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie in seinem Kopf aufgetaucht war. Nach wenigen Minuten hatte der Jungmanager den elektrischen Impuls der durch seine Synapsen gejagt war, bereits wieder vergessen. Seine volle Konzentration galt der Fahrt durch die hereinbrechende Nacht. Der einsetzende Regen machte den Weg durch das Gebirge noch schwieriger und gefährlicher als er ohnedies schon war.

Der Mann hinter dem Lenkrad des schweren Daimlers kannte die Strecke sehr genau, fuhr er sie doch täglich mindestens einmal und das seit mindestens zehn Monaten. Dennoch wirkte er nicht im mindesten entspannt oder gar überheblich hinter dem Steuer. Nein, ganz im Gegenteil. Er zollte der kurvigen Strecke seinen Respekt vom ersten Tag an, an dem er diese Straße befahren hatte. Seitdem hatte sie immer wieder ihre Opfer gefordert und der Fahrer wollte unter keinen Umständen eines dieser Opfer werden.

Die Fahrbahn wies zahlreiche Unebenheiten und Schlaglöcher auf, die das Befahren zu richtiger Arbeit werden lies und keinen Raum für Spaß am Fahren bot. In den zahlreichen engen Haarnadelkurven und im Wald gelegenen Spitzkehren mutierte der schwammige Straßenbelag zu einer schmierigen, seifigen Rutschbahn, sobald auch nur der geringste Niederschlag einsetzte.

Die ganze Aufmerksamkeit des Fahrzeuglenkers galt dem gelben Kegel aus Licht, der ihn durch die verregnete Nacht führte, wie ein Irrlicht den verirrten Wanderer durch das Moor. Vorsorglich hatte er das Radio ausgeschaltet, das ihn bis dahin mit seinem monotonen, zeitweilig mitreißend euphorischen Rhythmus ein wenig Abwechslung verschafft hatte. Die Sicht verschlechterte sich mit jedem Meter, den er tiefer in das deutsche Mittelgebirge vordrang, daß der junge Wagenlenker ernsthaft darüber nachdachte, in einen Waldweg abzubiegen und das Ende des Regens abzuwarten. Diesen Gedanken verwarf er aber schnell wieder, da es durchaus die ganze Nacht durchregnen konnte. So verringerte er das Tempo noch einmal und kroch förmlich durch die engen Kurven. Außerdem hatte er bereits gut drei viertel des Weges hinter sich gelassen und freute sich schon auf das Wiedersehen mit seiner Lebensgefährtin, die er noch in diesem Jahr ehelichen wollte.

Der Mittzwanziger verringerte noch weiter die Geschwindigkeit und bog in einen finsteren Waldweg ein. Dort erstarb der großzylindrige Motor, verloschen die Scheinwerfer und er genoß die natürliche Stille mit ihren tausend verschiedenen Geräuschen, bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Er musste dringend einmal austreten. Seine Blase hatte schon auf der Autobahn, kurz nach seinem Aufbruch aus dem Büro angefangen sich bemerkbar zu machen. Jetzt aber war diese so prall gefüllt, das er das Drücken nicht mehr länger ignorieren konnte, ohne eine Harnvergiftung zu riskieren.

Geräuschlos schwang die Autotür auf und der Banker trat in die feuchte Nacht hinein. Der feine Nieselregen drang fast ungehindert durch das üppige Blätterdach und benetzte sein bartloses Gesicht. Rundherum knarrten und knackten geräuschvoll die Bäume des Waldes. Eine Windböe erfasste ihn, peitschte ihm den Regen fast waagrecht entgegen und zerzauste sein volles, dunkles Haar. 

Langsam entfernte er sich ein gutes Dutzend Schritte von seinem Wagen und trat an einen Baum. Ein weiterer Windstoß fegte durch die Baumkronen, ließ diese bedrohlich schwanken und knacken. Direkt über dem Autofahrer schwoll das Knacken zu einem beängstigenden Crescendo aus splittern und bersten an, als hiebe jemand mit einer Axt in ein Stück Holz. Besorgt legte er den Kopf  in den Nacken und sah gerade noch, wie die mächtige Krone, der Buche unter der er stand, zur Seite wegknickte und direkt auf ihn nieder stürzte.

 

Der junge Mann stand inmitten einer saftig grünen Wiese, die hier und dort von einer kleinen Baumgruppe vervollständigt wurde. Eine sanfte Brise streichelte seine Haut und ließ die Gräser und Kräuter hin und her wogen. In der klaren Luft erhoben sich in der Ferne ausgedehnte Wälder und majestätische Berge und ließen diesen Ort in seiner Schönheit wie das Paradies erscheinen.

Neben ihm tauchte ein langhaariger Mann undefinierbaren Alters auf, der in Jeans und Baumwollhemd gekleidet war. Freundlich lächelnd trat dieser auf ihn zu.

<Willkommen in meinem Reich, junger Freund.> begrüßte ihn der andere.

Der junge Mann wusste nicht so recht was er antworten sollte. Also schwieg er, obwohl ihn das Gefühl beschlich irgendetwas antworten zu müssen und wenn es nur ein „Guten Tag“ war. Er sah sein gegenüber aufmerksam an, suchte in dessen Gesicht die Antworten auf seine tausend ungestalten Fragen. Nach wenigen Sekunden durchbrach der Langhaarige das Schweigen, das wie eine schwere Last auf den Schultern des verwirrt wirkenden Ankömmlings lag, in dem er sich nach dessen Reise erkundigte.

Alles woran sich der Mittzwanziger erinnern konnte, war der verrenkt daliegende Körper seines fleischlichen Ichs, aus dem er sich gemächlich herausschälte und dann langsam davon schwebte. Er war, wie von einem dunklen Strudel, in einen schwarzen, lichtlosen Tunnel gesogen worden. Schier endlose Zeit durchglitt oder -flog er diesen Tunnel, obwohl er eher das Gefühl hatte hindurch zu schwimmen, so dicht und undurchlässig wie Wasser fühlte sich die Umgebung an.

Zwar konnte er sich bewegen, drehen und sich umblicken, doch es gab keine Möglichkeit für den Reisenden die Flugbahn zu verändern. Das Ziel war vorgegeben und er hatte nicht die Macht dies mittels seines Willens zu beeinflussen.

Urplötzlich erschien ein winziger heller Fleck in dem tiefen, undurchlässigen Schwarz, das den Mann anzog wie eine Motte. Es kam ihm vor, als ob abermals eine Ewigkeit verging, bis sich der Lichtpunkt vergrößerte und sich zu gleißender Helligkeit veränderte. Er war, ohne es zu wollen, darauf zugeschossen und hatte sich unversehens inmitten dieser herrlichen Landschaft wiedergefunden.

Langsam, ganz langsam fielen die einzelnen Mosaiksteinchen eins nach dem anderen in ihre angedachte Position und der junge Mann begriff, was mit ihm geschehen war. Er war in dieser regnerischen Nacht unter dem tonnenschweren Gewicht der herabstürzenden Baumkrone gestorben. Und nun fand er sich im Reich des Allmächtigen wieder, vor ihm stand sein Schöpfer.

<Ich bin tot, nicht wahr? Aber warum? Ist meine Zeit wirklich schon abgelaufen?> wollte er von seinem Gegenüber wissen.

<Tut mir Leid, aber wir mussten ein wenig nachhelfen.> antwortete der Schöpfer. <Im Moment herrscht bei uns ein akuter Mangel an Schutzengeln.>

 

 

Copyright © Juni 2001 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach