Germanien im Spätsommer

 

von

 

REGINALD LANIRA

 

 

Die Sonne schien über aufgeregtem Vogelgezwitscher. Angenehme Temperaturen verspra­chen einen schönen Tag. Der Mann im kniehohen Gras hatte es nicht mehr länger zu Hause ausgehal­ten. Ein nicht zu beschreibender Drang hatte ihn hinaus ins Grüne gelockt., wo er nun faul auf einer Wiese lag und in den tiefblauen Himmel blickte. Der späte Nachmittag glitt langsam in den frühen Abend über, die Schatten wurden länger und der Endzwanziger beschloß zum harmoni­schen Ausklang des Tages, den Sonnenuntergang mitzuerleben. Trunken vom schweren Duft der wilden Blumen, schwang er sich auf seinen staubigen Drahtesel.

Der Wald war erfüllt von den beruhigenden Geräuschen des verschiedenartigsten Getiers. Der leise Wind strich sanft über die tiefgrünen Blättern des Spätsommers. Hier und da machte sich lauthals ein Waldbewohner bemerkbar. In Gedanken versunken strampelte der dürre, etwa mit­telgroße Mensch über einen selten benutzten, mit Laub und kleinen Ästen bedeckten,  abgelege­nen Waldweg.

Eine unnatürliche Ruhe riß ihn schlagartig aus seinen tiefen Gedanken.

Urplötzlich verwischte die Umgebung für einen kurzen Augenblick. Gleich darauf setzte der gewohnte Geräuschpegel wieder ein. Jedoch irgendwie verändert, irgendwie uriger. Nie ge­hörte Laute mischten sich mit den altbekannten der heimischen Tierwelt. Irritiert hielt der Radwande­rer an, schaute verwirrt den Pfad zurück, konnte jedoch nichts ungewöhnliches entdecken. Die Sonne warf weiterhin ihre langen Schatten in die Landschaft. Jedoch hatte sich etwas verändert. Etwas das einem nicht gleich ins Auge stach, sondern das man erst nach mehreren Minuten ausmachte. Und dieses auch nur dann, wenn man des öfteren die natürliche Schönheit des Waldes genießt.

Der ungepflegte Forst sah anders aus, ganz ungewohnt verändert. Er sah wilder aus. Wilder und dichter, und sehr viel gesünder. Keine Anzeichen mehr von saurem Regen und zuneh­mender Luftverschmutzung.

Dies und die unbekannten Tierstimmen waren dem jungen Mann nicht koscher und er beschloß beunruhigt den Sonnenuntergang, Sonnenuntergang sein zu lassen. Er wollte so schnell wie möglich den düster wirkenden Bäumen den Rücken kehren und über vertraute Straßen nach Hause. Es wollte ihm allerdings nicht so recht gelingen. Die ihm bekannten Waldwege waren nicht mehr aufzufinden und es schien als hätte sich die Fläche des Forstes enorm ausgedehnt.

Nach ungefähr einer Stunde Irrfahrt, während der er versuchte sich am Sonnenuntergang zu orientieren, gelangte er endlich zu einer menschliche Behausung.

Das darf doch nicht wahr sein. Wo bin ich denn hier gelandet? Ich bin hier im total falschen Film. Ich fahre doch nicht zum ersten Mal durch diese Gegend.  

Die Hütte am Ende des Pfades hatte aber auch gar nichts vertrautes an sich. Aus massiven Baumstämmen war sie vor langer Zeit zusammengefügt worden. Das Moos zwischen den Stämmen hatte aber noch keinen Winter auf dem Buckel. Die Hütte war zweifelsfrei be­wohnt, wie der junge Mann unschwer erkennen konnte. Forsch schritt er auf die etwas wac­kelig ausse­hende Tür zu, stellte das Rad neben die Tür, klopfte und harrte der Dinge die da kommen wür­den.

Nach einigen Augenblicken öffnete sich zögernd die Holztür. Eine junge, dunkelhaarige Frau erschien in dem Durchlass. Die Dame war, für seine Begriffe alt, gekleidet. Ein grobes, einfa­ches Leinenkleid, wie es vor Jahrtausenden getragen wurde, verhüllte ihre schlanke Figur. Die

glatten, langen Haare waren rechts und links zu zwei Zöpfen geflochten. Abwehrend hielt sie einen langen, gefährlich aussehenden Dolch genau auf des Mannes Brustkorb gerichtet und sagte einige Worte in einer unverständlichen, fremdartigen Sprache. Es mußte sich um eine Frage handeln, soviel konnte er aus ihrer Mimik herauslesen und versuchte nun mit Gesten und Worten zu verstehen zu geben, weshalb er geklopft hatte.

Zu seiner Verblüffung ließ sie den Dolch langsam sinken und trat ins Freie. Die Gesichtszüge waren fein geschnitten, ihre ganze Erscheinung strahlte, trotz ihrer Jugend, Stolz und Unab­hän­gigkeit aus. Ihr Blick fiel auf das Fahrrad neben der Tür. Langsam ging die Dunkelhaarige darauf zu, steckte dabei geschickt den Dolch in die Scheide an ihrem Gürtel, beließ jedoch vorsichts­halber die Hand am Knauf. Es schien als hätte sie solch einen Gegenstand noch nie zuvor gese­hen und versuchte sich nun vorzustellen, wozu er gut war. Sie blickte ihn fragend an und sprach erneut einige Worte in dieser unbekannten Sprache. Der Radwanderer ver­suchte die Frage zu beantworten, indem er sich auf seinen Drahtesel schwang und einige Runden damit drehte.

 

*

 

Das Abendbrot war einfach, aber sehr schmack- und nahrhaft. Haferbrei mit Apfelstücken. Die Hausherrin verhielt sich sehr zuvorkommend und suchte offensichtlich seine Nähe, was auf den jungen Mann doch etwas befremdlich wirkte, da er solches Verhalten vorher niemals kennen gelernt hatte. Der Wanderer fragte sich, weshalb gerade er, war im Endeffekt aber einfach nur glücklich.

Er wurde liebevoll von ihr gefüttert und mit schwerem, rotem Wein versorgt, während sie ge­meinsam auf dicken Bärenfellen am offenen Feuer saßen. Die beiden sprachen wenig mitein­an­der, denn sie hätten sich sowieso nicht verstanden, sondern verließen sich auf ihre Intuition und Beobachtungsgabe um den anderen zu verstehen. Diese Methode dauerte zwar etwas länger, brachte jedoch ebenfalls den gewünschten Erfolg. Sie verstanden sich auch ohne Worte.

Viel später in dieser Nacht, der Vollmond schien durch das einzige Fenster in die Hütte, nahm er sich eines der schweren Bärenfelle, das vor dem, aus Stroh und Moos bestehenden, Nachtlager lag und setzte sich in seiner Nacktheit in das alles überflutende Mondlicht, um es in sich aufzu­nehmen und womöglich noch etwas Kraft daraus zu schöpfen. Denn er hatte während des köstli­chen Mahles erkannt, das er nicht mehr in der ihm vertrauten Zeit lebte und ihre Annäherungs­versuche hatten seine Hoffnungslosigkeit und Angst etwas gedämpft und so etwas wie Optimis­mus aufkeimen lassen.

Nun saß er im hellen, magischen Mondlicht und weder sah, noch hörte er den Tod nahen.

 

  

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