Herzeleid

 

von

 

Holger Kuhn

 

 

Manuela stand in der Teeküche und spülte ihren Teller. Nein, das stimmte nicht. Sie bearbeitete das Geschirrstück unter dem heißen, laufenden Wasser mit einer Bürste und solch einer Vehemenz, als wolle sie ihn zu Pulver verarbeiten. Tränenbäche liefen über ihre blassen Wangen und tropften zu dem heißen Wasser in der Spüle. Kaum wahrnehmbares Schluchzen ließ ihren schlanken Körper erbeben.

<Guten Morgen, liebe Manuela. Möchtest Du eine Tasse Tee?> gutgelaunt trat ich zu der jungen Frau in den winzigen Raum und schwenkte die Kanne.

Wie in Trance bürstete die junge Kollegin weiter auf den Teller ein, als gäbe es nichts anderes auf der Welt als sie und die beiden Gegenstände in ihren Händen. Ohne Unterbrechung floß das dampfendheiße Wasser weiter über ihre Hände. Kein Wort drang in ihren Geist, daß sie hätte ablenken können. Sie hatte sich mit ihrem Schmerz ganz allein in ihr ureigenstes Universum zurückgezogen.

<Hallo, Manuela. Träumst du noch?> Langsam trat ich näher heran und erkannte die Flut von Tränen die ihren Blick verschleierten. Ihre Hände arbeiteten mechanisch, ihr Geist befand sich an einem anderen Ort, weit, weit entfernt von ihr.

Ein tiefes Rot hatte von ihren Fingern Besitz ergriffen. Die ersten kleinen Brandblasen bildeten sich bereits auf den Handrücken. Das Mädchen verbrühte sich die Finger und bemerkte es nicht einmal. Wie weit musste ihr Verstand bereits entfernt sein, diese Schmerzen klaglos zu ertragen.

Erschrocken drehte ich den Wassermischer auf die kalte Position und hoffte das die Flüssigkeit schnell genug kalt wurde, um ihre Verbrühungen und die damit verbundenen Schmerzen zu lindern. Ich trat hinter die Dunkelhaarige und nahm ihr den Teller und die Bürste behutsam aus den Fingern. Leise murmelte ich beruhigende Worte in ihr Ohr, in der Hoffnung den Nebel zu durchdringen der ihren Geist gefangen hielt. Dann fasste ich sie vorsichtig an den Gelenken und hielt ihre krebsroten Hände unter das mittlerweile eiskalte Wasser.

Ein tiefer Schluchzer entrang sich ihrer Kehle und ließ ihre zierliche Gestalt erzittern. Ich spürte, wie sich ihr Geist gemächlich an dem dünnen Faden, der ihn noch festhielt, zurück in den Leib hangelte. Schmerzen bohrten sich wie glühende Stricknadeln in ihren zurückkommenden Verstand und ließen sie wieder in der Realität der kleinen Teeküche auftauchen.

Verwirrt oder dankbar, ich wusste es nicht, drehte sie sich zu mir um, schlang die Arme um meinen Hals und küsste mich tief und innig. Vielleicht suchte sie nur Trost? Ich wusste es wirklich nicht?!

Ihr Kuss war warm und samten und ich ließ ihn nicht nur geschehen. Nein, ich genoß ihn in vollen Zügen. Wäre ich nicht schon in die Kollegin vernarrt gewesen, spätestens jetzt wäre es um mich geschehen gewesen.

Sie sprach noch immer kein Wort und ließ mich weiter im Dunkeln, über den Abgründen ihrer Seele baumeln. Es musste etwas Schreckliches, etwas Großes gewesen sein. Etwas das ihre Welt erschütterte, ihr den Boden unter den Füßen entzog.

Entweder die Liebe oder der Tod???

 

 

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