Ich? von Holger
Kuhn Draußen schien die Sonne. Langsam, fast gemächlich glitt ich aus meinem
traumlosen Schlaf an die Oberfläche. Etwas in meiner Umgebung störte
mich. Was es war, konnte ich noch nicht exakt lokalisieren, aber es war
falsch. Dieses Etwas zog mich nun unwillkürlich an die Oberfläche und
hinüber in die Realität. Verschlafen rieb ich die Augen und drehte mich auf
den Rücken. Es war ein Geräusch das mich geweckt hatte. Es hörte sich
an, wie das rhythmische Klappern einer Schreibmaschine. Nur viel leiser
und vorsichtiger, nicht so laut und grob. Einen kurzen Augenblick später
erkannte ich das Geräusch und die Quelle. Jemand benutzte meinen
Computer und die Tastatur. Verdutzt sah ich auf den mitten im Zimmer
stehenden PC und traute meinen Augen nicht. Tatsächlich saß dort eine
Person und hackte gleichmäßig Text in die Maschine. Seltsamerweise war
diese Person ich selbst oder zumindest Jemand, der mir bis aufs Haar
glich. <Guten Morgen du Schlafmütze. Bist du endlich
wach?> wandte sich mein anderes Ich mir zu. <Wer bist du und wie kommst du in meine
Wohnung?> fragte ich verdutzt und rieb mir erneut die Augen, da ich
befürchtete sie spielten mir einen Streich. <Nun, mein Name ist Benedikt und ich nehme an,
ich bin du und umgekehrt. Was deine zweite Frage betrifft muss ich dich
leider enttäuschen. Du bist nicht in deiner Wohnung, sondern in
meiner.> Diese Antwort kam mir verrückt vor. Ich lag doch
in meinem Bett. Daneben stand der braune Stuhl mit dem Radiowecker auf
der Sitzfläche. Darunter der Laserdrucker, den ich vor nicht allzu
langer Zeit günstig erstanden hatte. Dies konnte nur das Schlafzimmer
meiner eigenen vier Wände sein. Also, was behauptete diese unverfrorene
Person da für Sachen, die eindeutig nicht stimmten. <Machst du dich
über mich lustig? Das ist eindeutig meine Wohnung.> <Bist du dir da sicher, mein Lieber?> Ich
sah mich nochmals aufmerksam in dem Zimmer um. Mein Blick blieb an den
CDs an der gegenüber liegenden Wand haften. Damit stimmte etwas nicht.
Es waren jetzt viel mehr als noch gestern Abend, als ich zu Bett ging. <Wo kommen alle diese Compact Disks her?>
wollte ich wissen. <Ist dir ein Unterschied aufgefallen? Das ist
gut. Als die CD das Vinyl ablöste, verkaufte ich alle LPs und erstand
die CDs dafür.> erklärte mir mein anderes Ich. Ich sprang splitternackt wie ich war aus den
Federn und lief zur Tür. Wo normalerweise mein Plattenschrank hinter
der Zimmertür stehen sollte, stand ein Bücherregal, vollgestopft mit
den unterschiedlichsten Wälzern und Taschenbüchern. Zutiefst verwirrt
schlich ich zum Bett zurück und kroch wieder unter die Decke. Der andere Benedikt konnte wohl meine Fragen in
meinem Gesicht lesen, denn er begann von sich aus zu erzählen. <Ich
hatte eine gute Idee, die ich unbedingt festhalten wollte und war schon
früh aufgestanden. Vor etwa einer Stunde fing dann alles an. Die Worte
und Sätze sprudelten nur so aus mir heraus und ich kam gar nicht nach,
sie in den PC zu hacken, als plötzlich die Luft über meinem Bett zu
flirren und zu flimmern begann. Fasziniert schaute ich diesem Phänomen
zu, ohne mich von meinem Platz hinter dem Computer zu bewegen. Das
Flackern hielt nicht länger als vielleicht drei Minuten an. In dieser
Zeit tauchtest du auf. Zuerst deine Umrisse und Konturen, wie in Nebel
getaucht, die sich von Sekunde zu Sekunde immer feiner herausschälten.
Als das Flackern endlich aufhörte lagst du schlafend in meinem
benutzten Bett und rührtest dich nicht. Ich betrachtete dich eingehend, verglich dich mit
mir und konnte doch keine Unterschiede zwischen uns feststellen. Nach
meiner Auffassung sind wir ein und dieselbe Person. So verrückt das
auch klingen mag. Eine andere Erklärung habe ich für dein erscheinen
nicht. Aber lass uns erst mal etwas frühstücken, bevor wir uns weiter
das Hirn zermartern.> Ich saß immer noch verstört in meiner und doch
nicht meiner Kiste und konnte keinen klaren Gedanken festhalten. Die
Einladung zum Frühstück nahm ich gerne an. Vielleicht sah ich nach
einer Tasse Kaffee wenigstens etwas klarer. Mein anderes Ich ging in die Küche und werkelte
dort einige Minuten herum. Ich hörte wie Schranktüren geöffnet und
wieder geschlossen wurden, wie Gegenstände aufgenommen und woanders
wieder abgestellt wurden. Ein Wasserkocher wurde gefüllt und
angeschaltet. <Tut mir leid Benedikt, aber ich kann dir nur Tee
anbieten. Wie ich schätze, hast du dir das schon gedacht?> <Macht nichts.> Erst jetzt fiel mir auf, das
ich in einer, ja ... fremden ... Wohnung saß und nicht wusste, was ich
anziehen sollte. <Hast du was zum Anziehen für mich?> Mein Pendant erschien in der Tür und stemmte entrüstet
die Hände in die Seiten. <Benedikt, ich bitte dich. Du bist ich und
umgekehrt. Sieh in den Schrank und such dir was aus. Wahrscheinlich
besitzen wir sowieso die gleichen Klamotten. Wenn du fertig bist, komm
zu Tisch.> Mit diesen Worten verschwand er wieder und ließ mich mit
meinen Gedanken allein. Ich öffnete einen Schrank nach dem anderen und
sah, das darin die gleiche Ordnung oder Unordnung herrschte wie bei mir.
Sämtliche Kleidungstücke nahmen den gleichen Platz ein, wie in meinen
Schränken. Hier und da entdeckte ich aber auch Kleidungsstücke, die in
meinem Schrank gänzlich fehlten. Rasch schlüpfte ich in Unterwäsche,
T-Shirt und Hose und trabte ins Bad um die allmorgendliche Toilette zu
absolvieren. Fünf Minuten später saß ich meinem anderen Ich
gegenüber und goss mir eine Tasse Malventee ein. <Wir sind uns
wirklich beängstigend ähnlich.> Mittlerweile konnte ich meine
Gedankenfragmente ein wenig ordnen, trotzdem blieb die Verwirrung
schmerzlich präsent. <Nein, Benedikt. Wir sind uns nicht ähnlich.
Wir sind ein und dieselbe Person.> <Es fällt mir schwer das zu realisieren. Mein
Kopf schwirrt und ich habe das Gefühl Karussell zu fahren. Ich kriege
keinen vernünftigen Gedanken auf die Reihe. Liegt wohl daran, das ich
aus meiner gewohnten Umgebung gerissen wurde, obwohl es immer noch
dieselbe ist, aber wer weiß wie weit entfernt?> <Mir würde es nicht anders ergehen.> <Was, denkst du, ist passiert?>
Zeitlupenhaft verknüpften sich mehr und mehr Fragmente miteinander und
meine Gedanken kamen in Fahrt. <Bist du mein Antimaterie-Pendant?> <Daran hatte ich auch schon gedacht, aber das
kann nicht sein. Wenn du aus Materie und ich aus Anti-Materie wären, sähen
unsere Wohnungen bis auf das Mottenloch im T-Shirt gleich aus. Außerdem
gäbe es uns beide dann seit gut einer Stunde nicht mehr. Wir wären
beide zu Energie verpufft, als ich dich vorhin beim Betrachten berührte.
Nein, das ist nicht die Erklärung. Ich denke da eher an die
Multiversum-Theorie.> sinnierte mein Gegenüber über seine Tasse
hinweg. <Du meinst die Theorie, nach der es unendlich
viele Universen nebeneinander gibt, die sich nur in ganz feinen Nuancen
voneinander unterscheiden?> vollendete ich seinen Gedankengang. <Genau. Ein Riss im Raum-Zeit-Gefüge deines
Universums muss dich direkt in meinem Bett abgeladen haben.> <Dann gibt es also doch die Möglichkeit
zwischen den Universen des Multiversum zu reisen. Mein Erscheinen wäre
dann der letzte Beweis, der der Wissenschaft noch fehlte. Das würde die
Wissenschaftler aller Universen faszinieren. Was mich aber noch viel
brennender interessiert, wie komme ich wieder zurück in meine Welt?> <Das ist eine wirklich knifflige Frage auf die
ich leider keine Antwort weiß.> <Das hatte ich befürchtet. Ob ich hier für
immer gestrandet bin?> Nachdenklich starrte ich in meine Tasse, als fände
ich darin die Antwort auf mein Dilemma. <Glaubst du, ich bin durch
ein Wurmloch gefallen?> <Mittlerweile glaube ich, daß alles möglich
ist.> Der andere Benedikt schenkte sich Tee nach und griff nach dem
Nutella. <Ich schätze du musst ein wenig Geduld aufbringen, um
Antworten zu erhalten. Vielleicht aber bist du schon morgen wieder zu
Hause. Wer weiß das? Wer kann das sagen?> Ein Wurmloch kann es nicht gewesen sein.>
Beantwortete ich meine Frage selbst. <Nach der Theorie Einsteins und
Rosens verbindet ein Wurmloch zwei Punkte in einem stark gekrümmten
Raum.> Ich nahm den letzten Schluck Tee und stellte die Tasse zurück
auf den Tisch. <Was mich zu einem Zeitreisenden machte.> <Benedikt, zermartere dir nicht das Hirn. Lenk
dich ab, geh spazieren oder so was. Wenn du zurück bist, sieht die
Sache schon ganz anders aus. Vielleicht fällt mir bis zu deiner Rückkehr
etwas ein, das wir tun können.> <Wahrscheinlich hast du recht. Ich gehe mir
Bieber ansehen. Heute ist doch Donnerstag? Musst du nicht zur
Arbeit?> <Nein ich bin freiberuflicher Autor. Ich muss
erst Montag wieder zu einer Besprechung in den Verlag. Und du?> Mein
Gegenüber stand auf und begann den Tisch abzuräumen. <Immer noch bei dem Riesen mit dem T.> * Mein Heimatort sah genauso aus, wie ich ihn in
Erinnerung hatte. Die Sparkasse Offenbach neben Tengelmanns Filiale.
Hocks Zeitungs- und Tabakwarenladen neben der Raiffeisenbank e.G.. Der
Obst- und Gemüseladen Bieber verbunden mit der Wiener Feinbäckerei und
der Metzgerei Müller. Nichts schien sich verändert zu haben und doch
hatte ich das Gefühl, das alles ganz anders war, ungewohnt und neu.
Zwar schien die Sonne über den Menschen die ihrem Leben nachgingen,
doch für mich war alles so sonderbar, unbegreiflich und unerklärlich. Veränderte sich meine Heimatwelt durch mein
verschwinden? Blieb nun scheinbar die Zeit stehen, wo ich doch einen
anderen Ereignishorizont betreten hatte? Wie sollte ich zurückkommen?
Und was für eine Welt fände ich bei meiner Rückkehr vor? All diese
Fragen machten mich noch wahnsinnig, wenn ich weiterhin darüber
nachdachte. Ich beschloß einen Cappuccino zu trinken und
betrat das Café Bistro Bieber. Zu dieser Zeit, kurz nach Mittag war
wenig los in dem Laden und ich hatte die freie Platzwahl. Nachdenklich
setzte ich mich an einen Tisch an der Fensterfront und schaute dem
Treiben auf der Straße zu. <Hallo Benedikt. Schön das du da bist.>
Eine große, junge Frau setzte sich neben mich, herzte und küßte mich,
als wären wir enge Freunde oder sogar mehr. <Daphne? Was machst du denn hier?> Ich
kannte das Mädchen, aber sie hier zu treffen, erstaunte mich wirklich
sehr. <Aber Benedikt. Ich arbeite hier. Das weißt du
doch.> Jetzt war es an ihr erstaunt zu sein. Oha! Ich war in eine Situation geraten, mit der
ich nicht gerechnet hatte und ich nicht wusste, wie ich damit umgehen
sollte. Daphne Lemberg war in meinem
Leben eine Kollegin, die an einer Hotline in Frankfurt saß und nicht
den geringsten Bezug zu diesem Stadtteil Offenbachs hatte. Ihr hier als
Bedienung zu begegnen, überforderte mich dermaßen, das ich am Liebsten
aufgesprungen und davon gelaufen wäre. Dann kam mir der Gedanke, daß
ihr hier sein etwas mit mir bzw. meinem anderen Ich zu tun haben könnte.
Oder aber nur eine zufällige Fügung in der Drift der Realitäten war. <Bringst du mir einen Cappuccino?> bat ich
Daphne um Zeit zu gewinnen. <Natürlich, du Süßer. Dein Cappuccino kommt
gleich.> Damit verschwand sie hinter dem Tresen. So eine direkte Anmache hatte ich noch nie erlebt.
Möglicherweise aber war es gar keine Anmache, sondern nur die Ansprache
für ihren Herzallerliebsten. Sollte ich sie in ihrem Glauben lassen
oder besser die Situation auflösen? Was aber passierte, wenn ich ihr
erzählte, daß ich nur eine Art Double ihres Angebeteten war? Sie
glaubte mir kein Wort. Da war ich mir so sicher, wie Old Faithful[1]
sein heißes Wasser in die Luft schleuderte. Wie sollte ich reagieren? <Dein Cappuccino. Lass ihn dir schmecken.>
Daphne lächelte mich an und nahm wieder neben mir Platz. <Vielen Dank, du Liebe.> Ich lächelte zurück,
legte einen Arm um ihre Taille und zog sie ein wenig näher. Das Mädchen
ließ es willig geschehen und drückte sich sogar noch ein wenig mehr an
mich. Wie weit durfte ich gehen, falls sie wirklich
„meine“ Geliebte war? Unsicher flüsterte ich ihr eine Zärtlichkeit
ins Ohr, woraufhin sie mein Gesicht in beide Hände nahm und mich
behutsam küßte. * <Hallo Benedikt, ich bin wieder zurück.> <Hi! Geht es dir jetzt ein wenig besser? Hat
sich die Verwirrung gelegt?> Mein anderes Ich saß auf der Couch und
sah von seinem Buch auf. <Äh, ja. Du hast eine sehr nette Freundin. Ich
bin ihr im Café Bieber begegnet.> Ich setzte mich neben ihn und
lugte auf den Buchumschlag. <Du bist meiner Liebsten im Café Bieber
begegnet? Was macht sie denn da?> Benedikt zog ein überraschtes
Gesicht. <Na ja, sie bediente die Gäste.> <Sie bediente die Gäste? Wieso denn das?> <Ei, weil sie da arbeitet. Mann, bist du schwer
von Begriff.> <Warte einen Moment. Ich muss mit jemandem
telefonieren.> Mein anderes Ich stand auf und ging zum Telefon. Zwei
Minuten später setzte es sich wieder zu mir und sah mich fragend an.
<Wie sah denn meine Freundin aus? Beschreibe sie doch mal.> <Sie ist groß. Schätzungsweise einsachtzig
und schlank. Sie trägt dunkelblonde Locken, die nicht ganz bis auf die
Schultern fallen.> Mit Gesten und Deutungen unterstützte ich meine
Worte. <Weißt du auch einen Namen zu der Person?> <Ich kenne sie als Daphne Lemberg.> <O.K. Jetzt wird mir alles klar. Daphne!> Er
verdrehte die Augen. <Ist sie etwa nicht deine Freundin?> <Nein, Daphne ist nicht meine Freundin. Sie ist
nur hinter mir her, aber ich bin liiert und ich kann ihr nichts
abgewinnen.> <Deshalb hat sie mich so erfreut geküsst, als
ich ihr ins Ohr flüsterte, das ich sie süß finde.> <Ohoh. Da hast du dir aber was angelacht.> <Ich dachte, es ist deine Liebste. Hätte ich
sie wegstoßen sollen und sagen ich bin nicht du? Dann hättest du aber
was zu hören bekommen, wenn es doch deine Angebetete gewesen wäre.> <Du hast ja recht. Schwamm drüber. Ich lasse
mich die nächste Zeit da eh nicht blicken.> Benedikt hob das Buch
ein wenig in die Höhe. <Kommen wir auf unser Problem zurück. Ich
habe Hawking angefangen zu lesen. Das solltest du auch tun. Und wir
sollten uns auch noch Expertenrat holen ... bei Hawking selbst.> <Bei Hawking? Wie willst du das anstellen?>
Ich nahm ihm das Buch aus der Hand. <Nun, anrufen und einen Termin vereinbaren.
Wenn das nicht klappt, fahren wir auf die Insel und stehen vor seiner
Haustür. Wird vielleicht nicht einfach sein, aber mit ein wenig
Geschick ...> Oder wir tauchen gleich an der Uni auf.>
schlage ich vor. <Und zwar so schnell wie möglich.> <Lass uns erst ins Internet schauen. Vielleicht
finden wir im Netz einige Infos über Professor Hawking.> Benedikt
stand auf und ging ins Schlafzimmer, wo der Computer stand. Die Internetsuche förderte einiges an
Wissenswertem zu Tage. In diversen Suchmaschinen fanden wir die
Internet-Adressen der renommierten Universitäten in Oxford und
Cambridge, durch deren Homepages wir anschließend surften. Dort
entdeckten wir neben seiner Biographie auch die E-Mail-Adresse Stephen
W. Hawkings, der an der Universität von Cambridge einen Lehrstuhl
innehatte. Daraufhin formulierten wir eine Reihe von
allgemeinen Fragen, schickten diese auf elektronischem Wege über den
Kanal und harrten der Dinge die da kamen. In der Mail vermieden wir die
Situation beim Namen zu nennen und gaben keine näheren
Hintergrundinformationen, die hätten aufhorchen lassen können. Gegen
Abend erhielten wir endlich die ersehnte Antwort. Scott Davis, ein Student und Mitarbeiter des
Professors, beantwortete unsere Fragen nach den physikalischen Theorien
und Denkmodellen in Richtung Zeitreisen, Strings und Wurmlöcher ausführlich
und für uns Laien leicht verständlich. Er erklärte uns, daß rein
theoretisch Reisen in der Zeit möglich sind. Praktisch sähe die Sache
aber ganz anders aus. Die technischen Fähigkeiten unserer Zivilisation
reichten bei weitem noch nicht aus, solch ein Experiment zu ermöglichen.
Forscher benötigten für den Versuch ein Loch in das
Raum-Zeit-Kontinuum zu reißen, die ungeheure Menge der jährlichen
Energieproduktion einer der führenden Industrienationen. Somit ist es
nicht nur ein technisches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem, da
sich niemand findet, der eine solch horrende Summe für ein Experiment
aufbringt, dessen Ausgang völlig offen ist, erklärte uns Scott. <Sieht nicht gut aus für uns.> <Ich hatte diese Antwort befürchtet. Scheint
mir, als wäre ich hier gestrandet. Ein Riss in der Raum-Zeit ist aber möglich.
Kann die Wissenschaft einen solchen Vorgang nicht vorhersagen? Das müsste
doch irgendwie möglich sein.> <Fragen wir doch einfach Scott.> Benedikt
wandte sich erneut der Tastatur zu und tippte ein neuerliches Mail in
den Computer. Diesmal ließ die Antwort nur etwa eine Stunde auf
sich warten. Der Student schrieb, daß ein solches Phänomen bisher noch
nicht beobachtet worden sei, er diesen Denkanstoß aber an Professor
Hawking weitergebe. Außerdem wollte er wissen, welches Interesse wir an
der Beantwortung dieser Frage hätten. <Sollen wir ihm die Story erzählen?> fragte
ich mein anderes Ich. <Das musst du entscheiden. Du bist der lebende
Beweis für eine Reise durch Zeit und Raum. Entweder glauben sie uns,
dann bist du eine wissenschaftliche Sensation, wirst herumgereicht und
kannst dadurch die Forschung ankurbeln. Oder wir werden für
Aufschneider und Lügner gehalten... > <Gib mir zehn Minuten Zeit zum Nachdenken.>
Ich ging in die Küche und schenkte mir dort eine Tasse Tee ein, mit der
ich mich auf die Wohnzimmercouch fläzte. Was hatte ich zu verlieren? Wenn wir schwiegen,
war meine Chance wieder nach Hause zu kommen, weitaus geringer.
Vielleicht konnten wir die Briten überzeugen und der Professor half mir
aus meinem Dilemma. Wenn wir uns niemandem anvertrauten, musste sich
immer einer von uns beiden bedeckt halten. Früher oder später kam mein
illegaler Aufenthalt ans Licht und die Erklärung mit dem lange
verschollenen eineiigen Zwilling nahm uns kein Mensch ab. Andere Erklärungen
auftischen zu wollen, wäre genauso sinnlos. Es gab nur eine Lösung.
Ich musste die Flucht nach vorne antreten. <Benedikt, schreib Scott
bitte unsere Geschichte. Und versichere ihm, daß wir ihn nicht
hochnehmen wollen.> Gegen 22 Uhr schickte mein anderes Ich die
Nachricht über den Kanal, nachdem wir miteinander um jedes Wort
gefeilscht hatten. <Heute bekommen wir sicher keine Antwort mehr.
Trinken wir hinterm Haus noch ein Bier?> <Einverstanden.> Gegen Mitternacht bereitete mein Gastgeber mir die
Couch als Nachtlager vor und trollte sich dann selbst in die eigenen
Federn. Ich rollte mich in die Decke ein und schloss die Augen. Gedanken
glitten durch meine grauen Zellen, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen.
Gedankenbilder wirbelten wie Würfel durch die Neuronen, wühlten mein
Seelenleben auf und ließen Angst hochkommen. Eine endlos anmutende
Stunde später, glitt ich in einen unruhigen Schlummer, der von Alpträumen
durchjagt wurde. * <He, Schlafmütze! Aufwachen. Wir haben Post
bekommen ... und eine Einladung nach Cambridge.> Mein anderes Ich saß
neben mir auf der Couch und strahlte mich an. <Ich habe eben den
Posteingang durchgeschaut und da stand in einer Email drin, das Stephen
W. Hawking mit uns sprechen möchte.> Benedikt ließ den Namen auf
der Zunge zerfließen. <Mmmmmh? Wie kannst du nur so früh schon so
gut gelaunt sein?> brummte ich. <Die erste Hürde haben wir also
genommen. Machst du Frühstück oder drehen wir uns noch mal um?> <Du machst in einer halben Stunde Frühstück,
mein Lieber. Und ich schreibe derweil noch ein wenig.> Benedikt
klopfte mir auf die Schulter und erhob sich. <O.K. Sag mir wenn die halbe Stunde vorüber
ist.> Ich drehte mich auf die andere Seite und zog mir die Decke über
den Kopf. Kurze Zeit später hörte ich ihn auf die Tastatur einhacken. Eine Stunde nach unserem kurzen Gespräch zog der
Duft frisch aufgebrühten Kaffees durch die Wohnung und lockte mein
anderes Ich an den Frühstückstisch. <Das duftet ja lecker. Du hast mich selbst übertroffen.>
Benedikt lachte über seinen Wortwitz. <Ich bin selbst verblüfft. Ich frühstücke
selten ausgiebig und koche noch seltener Kaffee.> antwortete ich. <Hast du heute schon was vor?> Benedikt
bestrich ein Brötchen dick mit Butter und Honig und biss herzhaft
hinein. <Ich werde Daphne nach dem Mittagessen noch mal
besuchen.> Mein Gegenüber hörte auf zu kauen. <Ob das
eine so gute Idee ist?> <Ich bin vorsichtig. Ich verspreche es. Woran
schreibst du gerade?> wechselte ich geschickt das Thema. <Ich bin gerade in der entscheidenden Phase
meines neuen Romans.> <Worum geht es?> Ich griff mir ebenfalls ein
Brötchen und schnitt es der Länge nach auf. <Nichts Besonderes. Um Drachen und Trolle,
Elfen und Menschen und so was. Fantasy halt... > Benedikt winkte ab. <Darf ich deinen Text lesen?> <Wenn du möchtest. Vielleicht hast du ja ein
paar Anregungen für mich. Zurzeit hänge ich ein wenig.> Nach dem Frühstück gab mir Benedikt sein
Manuskript, in das ich mich sogleich vertiefte. Der Text fesselte mich
auf anhieb und ich legte ihn nicht eher beiseite, bis ich auch den
letzten Satz in mich aufgesogen hatte, wie ein Küchentuch ein feuchtes
Malheur. Mein Feedback fiel dementsprechend positiv aus, mit einigen
verschwindend kleinen Kritikpunkten, die den Ablauf seiner Geschichte
angingen. Während des Mittagessens, ich hatte uns beiden
ein leckeres Chili Con Carne zubereitet, zogen graue Wolken am Himmel
auf. Langsam musste ich mich sputen, wollte ich trockenen Hauptes zu
Daphne gelangen. Mein Pendant nutzte die Gunst der Stunde, um ein
wenig an seinem Roman zu arbeiten. Er war daher ganz froh darüber
einige Stunden ungestört zu sein. Er schaltete sogar extra den
Anrufbeantworter ein, um die Muse nicht durch schrilles Klingeln zu
vertreiben. <Bis zum Abendessen bin ich wieder zurück.> <Alles klar. Viel Spaß und passe auf dich
auf.> nickte er mir zum Abschied zu. <Mach ich.> Gut Zwanzig Minuten später betrat ich das Café
Bieber und begrüßte Daphne mit einer innigen Umarmung. <Machst du
mir eine heiße Schokolade, Süße?> <Alles was du willst, Süßer.> <Alles?> fragte ich süffisant zurück. <Alles!> Ich setzte mich an einen freien Tisch und wartete
auf meine heiße Schokolade. <Welch aufregende Aussichten. Wie lange
arbeitest du heute?> <Noch eine knappe Stunde, dann habe ich den
ganzen Mittag Zeit für dich.> Daphne wurde von ihrer Kollegin Janine abgelöst
und wir verließen etwa eine Stunde später im strömenden Regen das Café.
<Schau mal was Janine mir geschenkt hat. Einen
ihrer selbst genähten Bärchen. Ist der nicht knuddelig?> Daphne
strahlte wie ein erwachender Stern am Himmel. Gemeinsam spazierten wir durch die Umgebung und
unterhielten uns über Gott und die Welt, ehe sie mich mit zu sich nahm.
Daphne führte mich durch ihre kleine 2-Zimmer-Wohnung, die
geschmackvoll und gemütlich eingerichtet war. Ihr ureigenstes Rückzugsgebiet,
in dem sie alleine die Seele baumeln und zu Zweien glücklich sein
konnte. Eine gemütliche Wohnung, sowohl für einsame als auch sinnliche
Stunden. <Lass uns zusammen baden. Die Wanne ist
riesig.> lud Daphne mich ein und drückte mir eine Flasche Sekt in
die Hand. <Ich liebe es, Sekt aus dem Nabel geschlürft zu
bekommen.> Ein paar Minuten später führte sie mich in ein
von Kerzenschein erleuchtetes Badezimmer, dessen feuchte Wärme zur
Liebe einlud. Die Wanne war wahrhaftig riesig. Auf dem heißen
Badewasser schwammen Unmengen Badeschaum, der über die Ränder zu
quellen drohte. Kleine cremige Flocken lösten sich daraus und segelten
durch die Luft. Ich füllte die beiden Sektkelche auf dem
Waschbecken und stellte die Flasche daneben. Als ich mich wieder Daphne
zuwandte, zog sie mich an sich und wir küßten uns zart und innig, während
wir uns langsam unserer Kleider entledigten. * Am Morgen des übernächsten Tages saßen Benedikt
und ich in verschiedenen Linienflugzeugen nach London. Am Vorabend
hatten wir die Tickets über das Internet bei verschiedenen Fluglinien
reserviert. Die Abflugzeiten verschoben sich um eine gute Stunde, denn
wir konnten nicht gemeinsam einchecken. Ich reiste unter seinem Namen
und mit seinem Pass, während Benedikt nur seinen Personalausweis
einstecken hatte. Nach einer runden Stunde Flugzeit landete jeder für
sich wohlbehalten in London Heathrow und wir trafen uns nach den üblichen
Zollformalitäten am Taxistand. Dort enterten wir einen der Wagen und
ließen uns zum Londoner Bahnhof Kings Cross bringen, wo wir einen Zug
Richtung Cambridge bestiegen. <Wie fühlst du dich?> wollte mein anderes
Ich wissen. <Ziemlich aufgeregt. Glaubst du wir können
Professor Hawking überzeugen?> <Ich glaube, wir können unsere Behauptung
sogar beweisen.> Benedikt betrat ein leeres Abteil und setzte sich
ans Fenster. <Wie willst du das anstellen?> Ich zog die
Abteiltür hinter mir zu und setzte mich ihm gegenüber. <Wenn wir einen DNA-Test machen lassen, müssten
unsere Gene zu 100% übereinstimmen. Und das gibt es nur bei eineiigen
Zwillingen oder ein und derselben Person.> Neunzig weitere Minuten später verließen wir an
unserem Bestimmungsort den Bahnhof und enterten ein Taxi, das uns vor
dem Hause Hawking ablud. Die Sonne stand fast im Zenit als wir den
Vorgarten durchquerten. Auf unser Klingeln öffnete ein junger Mann,
unrasiert und leger gekleidet. <Hallo, Mr. und Mr. Kusch. Ich bin Scott Davis. Kommen sie doch herein.> Scott gab die Tür frei und führte uns ins Wohnzimmer des Ein-Familien-Hauses. <Der Professor wurde aufgeha |