Nur ein Traum

 

von

 

Reginald Lanira

 

 

Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel. Ich war mit André schwimmen, keine Ahnung welcher Tag es war. Wir hatten uns an diesem späten Nachmittag mit Rafael in einem kleinen Café verabredet. Von dem Lokal hatte ich bisher noch nie gehört, obwohl ich schon seit zwanzig Jahren in diesem Kaff lebe. Rafaels Fahrrad stand bereits vor der Tür und wir waren nur noch wenige Meter entfernt, als etwas meine Aufmerksamkeit erregte, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. André ging schon voraus und ich verweilte noch einige Momente vor der Tür.

Ich betrat zum aller ersten Mal dieses Bistro und sah mich zur besseren Orientierung um. Links den Gang hinunter lag die Küche in der jemand unsichtbares herumwerkelte. Angenehme Gerüche und Düfte waberten durch die Luft. Rechts, hinter einer schmalen Tür, kauerte sich ein kleiner Gastraum in das Gebäude. Zwischen den Tischen und Stühlen konnte man sich nur schlangengleich hindurch win­den. An jedem der Tische saßen jeweils zwei Personen, maximal zwanzig Jahre alt, die alle lächelten, sobald sie meine Ankunft bemerkten. Anfangs glaubte ich sie würden über meinen etwas eigenartigen Bart schmunzeln, doch in ihren Augen lag etwas ganz anderes, etwas warmes, freundliches. Sympa­thie?

Von den vielen jungen Leuten kannte ich keinen einzigen. Nur meine Freunde, die an einem Tisch im hintersten Eck Platz gefunden hatten. Niemand  kam mir auch nur annähernd bekannt vor. Niemand von dem ich hätte sagen können, dieses Gesicht habe ich schon irgendwo einmal gesehen. Ich wurde das Gefühl nicht los, das alle diese Leute mich von irgendwoher - von früher vielleicht? - kannten. Sonderbar!

Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, ich stünde im Mittelpunkt allen Geschehens.

Sehr sonderbar!!

Den Rucksack geschultert bewegte ich mich auf unseren Tisch zu. Kurz davor stolperte ich über zwei lang ausgestreckte Beine, deren Besitzer ich voll auf den Fuß latschte. <Hubballa!> Überrascht drehte ich mich zum Beinbesitzer um. Noch bevor ich eine Entschuldigung anbringen konnte, brandete ein "Hubballa" aus allen Kehlen und hinter vorgehaltener Hand wurde sich königlich amüsiert. Wieder hatte ich zuerst das Gefühl ausgelacht zu werden, doch auch jetzt erkannte ich bei genauerem hinsehen Sympathie in den Augen, ja sogar eine Art von Bewunderung.

Am Tisch unterhielten wir drei uns eine ganze Weile angeregt. Währendessen kamen und gingen Leute die schon zuvor anwesend waren. Völlig überraschend wurden in der gegenüberliegenden Ecke meh­rere Tische zusammen geschoben, auf denen mit der Zeit immer mehr Getränke und Knabberzeug erschienen.

Urplötzlich war ich wirklich der Mittelpunkt des Interesses. Einer nach dem anderen, Männlein wie Weiblein, kamen an unseren Tisch, gaben mir die Hand und fragten, ob ich sie denn nicht mehr wieder erkennen würde. Mein Gesicht formte ein einziges großes Fragezeichen. Ich erkannte keinen einzigen. Soviel ich mir auch das Gehirn zermarterte, die Erinnerung wollte mir nicht wie Schuppen aus den Haaren fallen. Ich fand im Speicher niemanden, der den Anwesenden auch nur im Entferntesten ähnelte. Die Leute ließen sich davon nicht weiter beeindrucken. Sie plauderten angeregt, tranken, naschten und standen durch die Gegend oder hielten Smalltalk und verbreiteten gute Laune.

Eine junge Frau kam auf unseren Tisch zu. Sie trug einen sommerlichen Rock, der ihr bis zum Knie reichte und eine kurzärmelige weiße Bluse. Die schulterlangen Haare rahmten ein hübsches Gesicht ein. In der Hand hielt sie eine Banane, deren braune Schale nur noch von einzelnen gelben Tupfern unterbrochen wurde. Die Blondine reichte mir die Frucht, die ich sogleich schälte und zu zwei dritteln aß. Das verbliebene Drittel drückte ich ihr in die Hand und zermatschte dort das weiche Fruchtfleisch. Die Schale zerquetschte ich ebenfalls. Zärtlich nahm ich ihre glitschige Hand und führte sie zur Toilet­te. Ich drängte sie durch die Tür des Herren-WC, und wir wuschen uns gegenseitig, ohne zur Hilfenahme der sauberen Finger, die Hände. Ich bugsierte die Dame sanft aber bestimmt in eine der Kabi­nen, deren Trennwände mir gerade bis zu den Augenbrauen reichten. Wir waren nicht allein. Jemand machte anstalten die zweite Kabine zu verlassen. Um der Anonymität willen bückte ich mich ein wenig.

Die Schöne stand vornüber gebeugt, auf die Klosettschüssel gestützt, vor mir. Bevor ich richtig losle­gen konnte, fühlte ich neugierige Blicke in meinem Rücken. Ein maskuliner Rotschopf lugte über den Türrand. Mit einer gekonnten Rechts-Links-Kombination über den Rahmen hinweg, schlug ich ihn in die Flucht.

Ich setzte gerade zum zweiten Sturmangriff auf ihre Hintertür an, da bemerkte ich einen kleinen Jungen, der fasziniert unsere Schuhe begutachtete. Gott sei Dank verlor er nach einigen Minuten das In­teresse an unseren Füßen und verschwand.

Während der ganzen Zeit hatte ich das unbestimmte Gefühl beobachtet zu werden; beobachtet von mir selbst. Unter der Decke des Raumes schwebend und mich selbst sehend. Dieser Eindruck veränderte sich mit der Zeit immer mehr in Richtung einer dünnen Linie zwischen Schlafen und Wachen. In einem weit entfernten Winkel meines Gehirnes erahnte ich das baldige Ende der Ruhephase und des Träu­mens, das Durchstoßen der dünnen Grenze. Das frustrierende Ende meines Abenteuers.

Erneut machte ich mich daran an das Begehrte zu gelangen, mich selbst und die Frau zu beglücken. Doch zuvor durchstieß ich die Trennlinie zum Wachsein und ärgerte mich.

 

 

Copyright © Juni 1998 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach