Sanfte
Geburt von
HOLGER KUHN Die Geburt im Jahr 3001. Tina wollte die sanfte Geburt des angesehenen
Arztes und Wissenschaftlers Dr. Reinbold Sattler unbedingt ausprobieren.
Sie hatte sich während der Monate ihrer Schwangerschaft mit Literatur
zu dieser Entbindungsmethode und den dazugehörenden
Forschungsergebnissen eingedeckt und diese regelrecht verschlungen. Selbst ihr Ehemensch mit seinen unglaublichen Überredungskünsten
sprach vergeblich mit Engelszungen auf sie ein. Nun liegt sie hier im Ruheraum, Carsten hält
tapfer ihre leicht zitternde Hand. Die Oberschwester betritt hektisch das Zimmer und
versucht die werdende Mutter zu beruhigen. <Machen sie sich keine
Sorgen. George ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der "Sanften Geburt"!> Die nass-forsch wirkende Hebamme löst die Bremsen
der Liegestatt und schiebt das junge Ehepaar in den Kreissaal, in dem
stets eine hektische Betriebsamkeit herrscht, die nur George nichts
anzugehen scheint, obwohl alles Hauptaugenmerk auf ihn gerichtet ist. Das kalte Licht des grell erleuchteten Kreissaales
sticht der Gebärenden, wie Eisenlanzen des ersten vorchristlichen
Jahrtausends der Menschheitsgeschichte in die Augen. Der diensthabende Dr. Jekyll tritt mit einer Frage
auf den Lippen zu dem Ehepaar. <Wünschen Sie, meine Liebe, eine
kleine biotechnische Ablenkung, beispielsweise einen Film, den wir in
ihre Synapsen einspeisen, oder möchten Sie das auf die Welt kommen
ihres Nachwuchses pur und ungefiltert miterleben?> <Vielen Dank Doktor, aber wir verzichten auf
jegliche Art von Hilfsmitteln.> Carsten starrt verwirrt auf die
Schwester, die mit einer schmerzhaft aussehenden Spritze in den Händen
auf sie zukommt. <Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, Frau
und Herr Tichonow! Schwester Eulalie wird nun künstlich die Wehen
einleiten und in weniger als einer Stunde werden sie beide glückliche
Eltern sein.> Ein herbeigeeilter
Helfer stülpt George ein steriles, reservoirloses und
lippenfreies Poliethylen-Kondom über den Kopf, zupft den Sitz des
medizinischen Hilfsmittels in die richtige
Lage. Nachdem er seine spezielle Arbeitsbekleidung
angelegt hat, begibt er sich gemessenen Schrittes zu seiner nächsten
Patientin, die mittlerweile die Geburtsposition im Gynäkologenstuhl
eingenommen hat. Vorsichtigst schiebt er zuerst seine befeuchteten
Lippen, dann den Rest des markanten Schädels in das nasse, weiche und
warme Gewebe Tinas. Behutsam tasten die Lippen in der Fruchtblase nach
dem etwa handballgroßen Fötusgelee. Sobald die Koryphäe die
glitschige Nabelschnur ertastet, entnabelt er das Baldgeborene und
verleibt sie sich genüßlich ein. Unter seinesgleichen gilt die
Nabelschnur als Delikatesse. Carstens Frau stellt sich George vor, wie er mit
seiner langen, warmen Zunge in der Fruchtblase herumschlürft und eine
gewisse Art von Lust in Tina weckt, die sie langsam aber sicher in
Richtung Ekstase treibt. Durch die zunehmende Verschmutzung und Vergiftung
der lebensnotwendigen Umwelt im Laufe des vergangenen Jahrtausends, veränderte
sich die Zeugung und Geburt des menschlichen Nachwuchses sehr
nachhaltig. Der menschliche Fötus besteht während der Geburt
nur noch aus einem gelehrigen Brei, der sich erst außerhalb des
Mutterleibes selbständig zu einem menschlichen Wesen formt. Die Augen
sehen aus wie zwei in eine Pfanne gehauene Eier. Sie formen sich
innerhalb der ersten drei Minuten zu den kugelförmigen Augen mit Iris,
Pupille und den Sehnerven. Sie kriechen auf den Nervenenden zu der
Stelle an der sich einige Minuten später der Kopf mit den Augenhöhlen
bildet. Die verschiedenen Extremitäten wachsen aus vier
gallertartigen Tentakeln die an den Seiten des Fötus hervorsprießen. Fünfzehn
Minuten nach dem ersten Erblicken des Lichtes der Welt ist die
Metamorphose abgeschlossen und der Säugling schreifertig. Eine gute halbe Stunde nach der Weheneinleitung
durch die Schwester, halten die beiden ihre sehnlichst erwartete Tochter
vorsichtig in den Armen. Nach einem anstrengenden acht Stunden Arbeitstag
kehrt George geschlaucht aber glücklich, im Bewußtsein der Menschheit
wieder einmal unschätzbare Dienste erwiesen zu haben, zu seinen
Nachbarn und seiner Familie auf die prächtig grünende Ziegenweide zurück. Copyright © Juli 1997 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach |