Silvester und der Freitod

 

von

 

Holger Kuhn

 

 

Es war einer jener Silvesterabende die man im Laufe seines Lebens erlebt. Ich hatte mir ein Zimmer in einem der noblen Hotels der Stadt gemietet, mit dem Ziel die Begrüßung des neuen Jahrtausends aus einer Art Vogelperspektive zu genießen. Gegen viertel nach elf betrat ich die eisige Kälte des Balkons.

Das Brandende der vorzüglichen Zigarre tauchte gerade in die Flamme des Streichholzes, als mich ein leises Seufzen von der Nachbarplattform her irritierte. Vorsichtig lugte ich um die Milchglasabtrennung herum und sah dort ein wunderschönes Mädchen auf der Balustrade sitzen, deren langen Beine über dem Abgrund baumelten. Sie hielt die Augen geschlossen und atmete tief und gleichmäßig; sie wollte springen!

 

<Entschuldige bitte. Darf ich fragen warum?>

<Warum was?> Die junge Frau öffnete die Augen und blickte sich irritiert nach der Stimme um, die sie aus ihren selbstmörderischen Träumen riss.

<Warum willst du springen?>

<Das geht dich gar nichts an.>

<Stimmt. Ich will dich ja auch nicht abhalten. Aber es würde mich doch brennend interessie­ren, warum du dein Leben einfach so wegwerfen willst?> Bei meinen Worten schwang  ich ein Bein um die Abtrennung herum auf ihren Balkon und zog das zweite geschmeidig nach.

<Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst. Was machen schon ein paar Minuten mehr oder weniger.> Während sie im dünnen Negligé in der Eiseskälte auf der Brüstung saß, erzählte sie mir ihr ganzes Leben. Sie schüttete mir ihr Herz aus. Einen ihrer Pumps hatte sie schon an die Tiefe verloren.

Ursprünglich stammte sie aus mittelständigen Verhältnissen, war aber schon im zarten Teeniealter sportlich zu Ruhm und Reichtum gelangt, den sie und ihre Familie nicht richtig verkraftet hatten. Ihr Vater war darüber zum Alkoholiker geworden, der ihr Geld mit Spielen und zahllosen Affären durchbrachte, sich aber nicht von ihrer Mutter trennen wollte, da sonst die sprudelnde Geldquelle versiegt wäre. Außerdem sehnte sie sich nach den Zeiten zurück, als nur wenige Leute sie kannten und die Reporter noch keine Jagd nach ihr veranstal­teten, wo immer sie auch auftauchte.

<Und nur deswegen willst du springen?> Ungläubig schüttelte ich den Kopf.

<Reicht das etwa nicht? Was glaubst du eigentlich wie schlimm es ist, nicht einmal auf das Klo gehen zu können, ohne das eine journalistische Schmeißfliege an deinem Hintern klebt.> Sie verzog angewidert das Gesicht.

<Nein. Niemals. Gegen alles läßt sich etwas unternehmen!> Unvermittelt wechselte ich das Thema. <Wie viele Männer hast du schon gebumst?>

<Das geht zu weit!> Das Mädchen musterte mich verblüfft ob dieser Unverfrorenheit.

<Weshalb? Du hast mir doch schon dein ganzes Leben zu Füssen gelegt. Also warum sollte ich es nicht erfahren, wo du doch bald stirbst?>

<Einen.>

<Wie viele Gläser exquisiten Rotweines hast du in deinem Leben genossen? Bewußt genossen?> Ich stand nur knapp einen Meter neben ihr. Sie schien keinen Gedanken daran zu verschwenden, daß ich sie einfach von der Brüstung hätte reißen können.

<Ich mag keinen Wein.>

<Apropos Wein. Hast du vielleicht eine Flasche und ein Glas da?> Zur Zigarre schmeckt am besten ein, je nach persönlichem Geschmack, halbtrockener Rotwein mit fruchtigem Bou­quet.

<Ich weiß nicht. Sieh selbst nach.>

<Mach ich. Aber vorher möchte ich ein Versprechen von dir. Versprich mir das du erst springst wenn ich wieder zurück bin.>

<Warum sollte ich das versprechen?>

<Weil ich deinen Flug genießen will. Bei einem Glas Rotwein und einer guten Zigarre.>

<Gut, versprochen.>

<Schön, aber denk daran: Wer ein Versprechen bricht, kommt niemals in den Himmel. Und du kannst niemals sicher sein, was nach dem Leben wirklich kommt.>

Im gut sortierten Kühlschrank fand ich einen wunderbaren Jahrgang. Im Schrank daneben das dazu passende Glas. Kultur­banausen, allesamt. Als ich den Balkon wieder betrat, flatterten ihre blonden Haare im Wind. Im Halbdunkel der entfernten Großstadtlichter konnte ich eine Gänsehaut über ihren Körper huschen sehen.

<Darf ich nun endlich?> Unsicher sah die Blondine in die schwarze Tiefe.

<Nein ich bin noch nicht soweit. Wie viele Zigarren hast du bisher geraucht?> Genüßlich zündete ich mir die Partagas an.

<Ich rauche nicht.>

<Auch noch kein Zigarillo probiert?>

<Nein.> Entsetzt schaute sie zu mir herüber.

Erste Anzeichen von Neugierde schlichen sich in ihre Blicke. Mann konnte ohne Anstrengung erkennen, wie es hinter ihrer Stirn anfing zu arbeiten. Ob dieser seltsame Typ nicht vielleicht doch Recht behielt. Ob sie noch zu wenig von der Welt und ihren Bewohnern gesehen hatte, um jetzt schon ins Gras zu beißen? Auch noch freiwillig. Zu früh? Viel zu früh!

Themenwechsel. <Bist du schon einmal so zärtlich vernascht worden, das du allein beim Gedanken daran gekommen bist?>

<Nein. Leider noch nicht.> Zwei große Augen sahen mich unendlich traurig, mit einem Anflug von leiser Sehnsucht, an.

<Sehr schade. Du verpasst wirklich einige einmalige Erlebnisse. Hast du nicht das Gefühl, dass das noch nicht alles gewesen sein kann? Das Gefühl, das im Leben noch etwas kommen müsste, zum Beispiel die Liebe. Glaubst du nicht du versäumst irgendetwas?>

<Manchmal schon. Aber zu spät ist zu spät.>

<Bist du sicher? Sag niemals nie. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, und muss auch manchmal etwas dafür tun. Denn Gott hilft nur dem, der sich selbst hilft. Und nun spring!> Ich schwang wieder ein Bein um die Trennwand, diesmal zurück auf meinen Balkon.

<Warte! Bitte!>

<Ja?> Halb in der Luft hängend blickte ich lächelnd zurück. Die junge Frau stand wieder mit beiden Beinen sicher auf dem Kunstrasen des Balkons.

<Lass uns nach drinnen gehen. Ich habe kalte Füße.>

 

  

Copyright © Januar 1998 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach