Tageserwachen

 

von

 

Holger Kuhn

 

 

Die zweite Nacht nach der Tag- und Nachtgleiche neigte sich allmählich ihrem Ende zu. Unaufhaltsam kroch die Morgendämmerung über die Gebirgszüge am Horizont. Im Hintergrund hörte man das erwachende Vieh verhalten im Haus blöken. Das Gebäude ragte nur etwa zur Hälfte aus dem Boden und diente Mensch und Tier als Unterkunft. Utagunda saß auf dem mit Schilf gedeckten Dach und genoß die letzten ruhigen Minuten des Morgens. Über ihrem groben Leinenkleid trug sie ein Schaffell um die schmalen Schultern. Die nackten Füße starrten vor Schmutz. Ihr blondes Haar hing strähnig auf die Schultern herunter. Das Mädchen war nicht unbedingt eine Augenweide. Eher eine herbe Schönheit, die ihre wahre Pracht erst nach genauerem Hinsehen darbot. Mit einer Wüstenblume vergleichbar, die ihre Blüte erst nach einem erfrischenden Regen öffnet.

Utagunda liebte diese Zeit des Tages, in der so viel Mystisches verborgen lag. Denn nur zu dieser Zeit und an diesem Ort konnte sie ungestört ihren Träumen und Gedanken nachhängen, die von zarter Liebe und einem erfüllten Leben handelten. Die majestätischen Berge am Horizont mit ihren schneebedeckten Gipfeln und Graten faszinierten die Bauerntochter von Tag zu Tag mehr. Sie fühlte sich von ihnen auf unerklärliche Weise angezogen. Eines schönen Tages würde sie aufbrechen und die Strapazen der viele Tage langen Reise auf sich nehmen. Das Mädchen würde alles hinter sich lassen. Ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft, denn an diesem Ort würde sie ihr Glück finden. Dort einem jungen Mann zu begegnen, der sie als sein Weib nach Hause führen würde, so hoffte sie. Fröstelnd zog die junge Frau das fleckige Fell ein wenig enger um die frierenden Schultern, das die Kälte des spätsommerlichen Morgens nur notdürftig abhielt.

Die älteste Tochter des Bauern genoss den Blick über das still vor ihr ausgebreitete Land. Hoch über ihr glitzerten noch vereinzelt Sterne am dämmrigen Himmel, die wie Diamantsplitter auf einem dunklen Samttuch funkelten. Die gedämpften Laute des nahen Waldes drangen leise und unnatürlich über die Wiesen, vergleichbar dem Flüstern eines Geistwesens. Im feuchten Gras schillerten die Tautropfen im Licht der Sterne und den ersten Strahlen der Sonne. Utagunda kam sich sehr klein und unbedeutend vor, angesichts dieser von der Natur geschaffenen Schönheit.

Zerfasernde Nebelfetzen zogen vom leise murmelnden Bach herauf, über die Wiesen hinweg und legten sich wie ein dichter Film kniehoch über die Gräser und Kräuter. Ursprüngliche Wälder bedeckten weite Teile ihrer Heimat. In ihnen tummelten sich zahlreich die verschiedensten Wildarten, die den Speisezettel ihrer Sippe um einige Leckerbissen bereicherte. Die ersten Vögel stimmten bereits ihr Lied an, das der Hahn bald übertönen und auch die letzten Schläfer wecken würde. Unter ihr begann sich allmählich die Sippschaft zu regen und sich auf einen neuen Tag vorzubereiten. Dieser würde ebenso mit Arbeit ausgefüllt sein, wie die vorangegangenen und noch kommenden Tage auch. Denn das Land das ihr Vater bewirtschafte war gutes, ertragreiches Land, auf dem das Korn und die Gerste prächtig gediehen. Das Getreide und das Vieh sicherten ihrer Gemeinschaft ein gewisses Maß an Reichtum und Macht im näheren Umkreis.

Schon allzu bald war es für Utagunda an der Zeit ihren Lieblingsplatz zu verlassen. Die täglichen Pflichten innerhalb des Clans riefen und mussten erledigt werden. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Eier des Federviehs einzusammeln, mit der Mutter die Mahlzeiten vorzubereiten und auch den Familiennachwuchs zu hüten. Und selbstverständlich musste sie den verschiedenen Sippenmitgliedern zu Willen sein, wie es in ihrem Kulturkreis nun einmal üblich war.

 

 

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