Wenn Engel reisen...

 

von

 

Holger Kuhn

 

 

Die Boing 747 glitt in 10.000 Metern Höhe durch das endlose Blau des Himmels. Die französische Küste lag bereits einige Stunden hinter uns, der Atlantik tief unter uns glitzerte, wie Millionen Glassplitter im Sonnenlicht.

Ich ließ meinen Blick und die Gedanken schweifen, als ich etwas sehr seltsames bemerkte. Eine sehr merkwürdige Gestalt, ganz in weiß gehüllt, mit zwei Flügeln auf dem Rücken saß auf einer der Tragflächen und schien den Ausblick zu genießen. Als sie meinen neugierigen Blick bemerkte, hob sie eine Hand zum Gruß und lächelte.

„Wer bist du?“ formulierte ich eine lautlose Frage ohne eine Antwort darauf zu erwarten.

„Ich bin dein Schutzengel.“ Die Gestalt hatte ebenfalls lautlos geantwortet und trotzdem verstand ich jedes ihrer Worte, gerade so als würden diese direkt in meinen Verstand projiziert.

„Brauche ich dich denn auf diesem Flug?“

„Sei unbesorgt. Ich bin routinemäßig hier, aber ich muss gestehen, ich genieße deinen Urlaub.“ Gestand mein Schutzengel erfreut.

„Routinemäßig!? Wieso routinemäßig?“ Ich starrte noch immer ungläubig aus dem Flugzeugfenster. Der Fahrtwind von fast eintausend Stundenkilometern machte dem Engel nicht die geringsten Schwierigkeiten. Elegant drehte er sich vollends zu mir um und schlug die, von der Tragfläche herunter baumelnden, Beine übereinander.

„Nun, ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber der Dienst an deiner Seite ist zeitweilig doch etwas eintönig. Du könntest ein Quentchen mehr Pep in deinem Leben gebrauchen. Das würde meine Arbeit ein wenig interessanter gestalten. Dein Vorgänger war da ein ganz anderes Kaliber“ kam er ins plaudern. „Weißt du, bei dem waren manche Tage richtiger Stress. Wenn ich ihn nicht samt seiner Kawasaki vor heran brausenden LKW’s retten mußte, lief er nur mal so aus Spaß auf dem Geländer eines Hochhauses spazieren. Ohne Netz und doppelten Boden versteht sich. Irgendwann setzte er sich in den Kopf das Free Climbing auszuprobieren. Kurz bevor er sich selbst zu Knochenmus verarbeitete, erwischte ich ihn gerade noch so am Kragen. Ein anderes Mal lieferte er sich ein Rennen mit einem Ferrari. Ich konnte ihn im letzten Moment um den Brückenpfeiler herum bugsieren. Der Kerl war schon ein echt verrückter Draufgänger...“

„Was ist aus ihm geworden?“ nutzte ich eine Pause in seinem Redefluß.

„Nun, mir unterlief ein kleiner Fehler. Ich trank gerade einen Kaffee, um den Stress des Tages besser zu überstehen, da kam der Kerl auf die glorreiche Idee nackt über die Autobahn zu rennen“ plauderte er weiter und reckte sich dabei.

„Und?“

„Ich habe mir einen kräftigen Rüffel vom Boß abgeholt und wurde strafversetzt. Tja, seitdem weiche ich dir nicht mehr von der Seite.“ Mein angeblicher Schutzengel schaute beinahe ein bißchen wehmütig drein.

„Du weichst mir aus.“ Stellte ich fest. „Was wurde aus meinem Vorgänger?“ wollte ich noch immer wissen.

„Er ist ab dem Halswirbel abwärts gelähmt und muss rund um die Uhr gepflegt werden.“ Ein leichtes Bedauern war in seinen Augen zu erkennen. „Besorgst du mir einen Kaffee?“

 

  

Copyright © September 2002 Holger Kuhn Dietesheimer Str. 400 63073 Offenbach